Katalog
Deutschland insgesamt hatte durch den Krieg und seine Nachwirkungen die künstlerischen Entwicklun- gen von annähernd zwei Generationen versäumt. Der Neubeginn erheischte Anleihen bei den fortgeschrit- teneren Nachbarn. Im katholischen Süden orientierte man sich an Italien, die Reformierten im Norden bezogen ihre Anregungen aus den Niederlanden. Kursachsen jedoch verstand sich als Hort des evan- gelischen Weltverständnisses und entwickelte mit diversen, eher nordischen Anleihen einen eigenstän- digen Hochbarock, den einheimische Künstler aus- formten. Dies entsprach auch seinem politischen Rang und Gewicht im Reiche. Gestärkt durch die bei- den im Krieg erworbenen großen Markgrafschaften der Ober- und Niederlausitz, erstreckte es sich von der schlesischen Grenze im Osten bis zur Saale und Unstrut im Westen und vom Erzgebirgskamm in nördlicher Richtung bis zur mittleren Elbe. Es war damit etwa doppelt so groß wie der heutige Freistaat und zählte zu den Großmächten unter den deutschen Fürstentümern. Gottfried Silbermann ist vermutlich nach dem Brauch seiner Zeit mit dreizehn Jahren in eine Lehre gegeben worden. Damals wurde Sachsen seit zwei Jah- ren von einem jungen Kurfürsten regiert, Friedrich AugustI., später August der Starke genannt. 1697 sieg- te er im Wettbewerb um Polens Krone über einen französischen Gegenkandidaten und wurde in Krakau gekrönt als August II., »König in Polen«. Das spätere Schicksal Silbermanns wurde durch diesen Akt wesentlich mitbestimmt, denn dessen politische und kulturelle Folgen waren von ungeheurer Tragweite. Fünf Kriege waren die Folge der sächsisch-polni- schen Personalunion, denn das polnische Königreich war Europas zweitgrößte Landmacht, und das Kur- fürstentum Sachsen gehörte zu den fortgeschritten- sten Wirtschaftsregionen des Kontinents. Die Verbin- dung dieser Länder veränderte das sogenannte euro- päische Gleichgewicht. Hinzu kommt, daß das eine streng katholisch, das andere fundamental protestan- tisch war. Den ersten dieser Kriege führte August der Star- ke seit 1700 in einer Koalition mit Dänemark und Rußland gegen die nordosteuropäische Großmacht Schweden, um deren Herrschaft über den Ostsee- raum zu brechen und seine Stellung in Polen zu fest- igen. Silbermann hatte das Glück, dem Krieg zu ent- gehen und wohl nach abgeschlossener Lehre als Geselle im Jahre 1701 nach Straßburg zu wandern, um dort in der Orgelbauwerkstatt seines Bruders Andreas seine Ausbildung zu vollenden. Der Nordi- sche Krieg endete für Sachsen de facto 1709, nach zwischenzeitlicher Besetzung durch schwedische Truppen, als die Armee Zar Peters des Großen in der Schlacht bei Poltawa die Schweden schlug. Dies bedeutete das Ende der schwedischen Hegemonie Dieser soziale Sachverhalt bildete die Grundlage da- für, daß sich vor allem im alten montanwirtschaft- lichen Kerngebiet selbst Dörfer, die heute klein sind und damals winzig waren, die Anschaffung einer Sil- bermann-Orgel leisteten. Denn der finanzielle Auf- wand belegt nicht allein einen hohen kulturellen Anspruch, sondern auch, daß eben jene Schichten bei ihren vor versammelter Gemeinde vollzogenen Fami- lienfeiern, wie Hochzeit, Taufe und Begräbnis, eine Orgel für notwendig erachteten, die zur modernen Figuralmusik, also vokal-instrumentaler Ensemble- musik auf Generalbaßgrundlage tauglich war und da- zu beitrug, ihren gesellschaftlichen Anspruch darzu- stellen. Selbstbewußtsein, Frömmigkeit und kommu- nales Engagement gingen glücklich überein – also Bürgerlichkeit in ihrem ursprünglichen Sinn –, um solche Werke zu vollbringen. Insgesamt waren jedoch noch weitaus komplexere Vorbedingungen zu erfül- len, um eine so großartige Erscheinung wie Silber- mann und sein Werk zu ermöglichen. Der Zusam- menhang mit der Blütezeit der sächsischen Künste während des augusteischen Barocks ist augenfällig. Gottfried Silbermann wurde 1683 geboren. Das 1680 neu errichtete Haus der Familie, das Wohn- und Stallgebäude zugleich war, mit gemauertem Sockel- geschoß und Fachwerk darüber, war ein schlichtes Dorfhaus in Kleinbobritzsch unmittelbar unter dem hochgelegenen Städtchen Frauenstein im Erzgebirge. Dorthin zog die Familie in ein zweites neues Haus, das der Vater als Ratszimmermann 1685 erbaut hatte. Die weitläufige Burganlage, deren Ruine die Stadt gleichsam bekrönt, wachte seit den Jahren um 1200 über die Paßstraße, die dort vom nahegelegenen Böh- men über den Gebirgskamm herüberführt und sich mit anderen kreuzt, bevor sie Freiberg erreicht. Das prächtige Renaissanceschloß neben der Burg be- herrschte die Kleinstadt mit ihren fünf Toren. Wohl- habend war die Stadt wegen der Silberminen, die dort erschlossen wurden und die eine Ursache für Silbermanns Namen gewesen sein könnten. Die ganze Gegend bildete einen Brennpunkt wäh- rend des 30jährigen Krieges. Schwedische Truppen zogen über die Grenze, um Prag zu berennen, und die kaiserlichen querten sie in Richtung Norden bei ihren Zügen gegen die Protestanten. Allein das stark be- wehrte Freiberg, einen halben Tagesmarsch entfernt, wurde zweimal belagert. Die Silbermannschen Hausbauten waren eines der zahlreichen Zeugnisse dafür, daß nun, am Ende des 17. Jahrhunderts, Belebung und Erholung eintraten. In den größeren Städten, wo Kunstformen angewen- det wurden, trat generell ein schwergewichtiger, nie- derländisch orientierter Barock in Erscheinung, protestantisch streng. Allein bei Hofe in Dresden bediente man sich auch des moderneren Formenguts aus katholischen Ländern, wenngleich zurückhaltend. 10 Silbermanns Sachsen
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