Katalog
über den Ostseeraum und das Erscheinen Rußlands im Kreis der europäischen Großmächte, den es seit- dem nicht mehr verließ. Die sächsisch-polnische Union stand gefestigt – jedoch nunmehr abhängig von Rußland – am Beginn einer jahrzehntelangen Periode des Friedens und des Wohlstands, als Gott- fried Silbermann, ausgestattet mit den neuesten Kenntnissen des französischen Instrumentenbaus, 1710 in seine sächsische Heimat zurückkehrte. Der junge Meister trat damit in einen kulturellen Zusammenhang ein, der sich von jenem erheblich unterschied, den er neun Jahre zuvor verlassen hatte, der andererseits aber den Straßburger Verhältnissen ähnelte. Denn im Elsaß herrschte mit Ludwig XIV. von Frankreich ein katholischer König mit seiner Staatsverwaltung über eine evangelische Bürger- schaft. Gewissensfreiheit und gegenseitige Tolerie- rung, wie sie die Philosophen und Staatsrechtler der Frühaufklärung forderten, waren die Voraussetzun- gen der Regierbarkeit und damit des Friedens dieser Länder, auch Kursachsens. Denn August der Starke hatte, um zum polnischen König überhaupt wählbar zu werden, das katholische Bekenntnis angenommen. Da er aber als Kurfürst von Sachsen die evangelisch- lutherische Kirche zu schützen verpflichtet war, andererseits als König aber einen polnisch-katholi- schen Hofstaat mit Hofkapelle, Beichtvätern und anderen Geistlichen zu halten hatte, blieb ihm nur die öffentliche Deklaration der Gewissensfreiheit. Das Bekenntnis war nunmehr Privatsache, eine Staatskirche gab es nicht mehr. Sachsen wurde wäh- rend Silbermanns Lebens- und Schaffenszeit zum Zentrum der deutschen Aufklärung. Die kulturellen Folgen dieses Sachverhalts prägten den gesamten Kurstaat, vor allem aber Dresden. Es mußte möglichst rasch und großartig von einer alter- tümlich-provinziellen kurfürstlichen Residenzstadt zur modernen, internationalen Ansprüchen gerech- ten königlichen Hauptstadt umgebaut werden. Ge- bäude von höchstem künstlerischen Rang wie der Zwinger, die Frauenkirche und die katholische Hof- kirche und Museen wie das Grüne Gewölbe, die Por- zellansammlung und die Gemäldegalerie sind noch heute bewunderte Zeugnisse dieser Aufbauzeit. Ihre geistige Voraussetzung war die Aufgabe der orthodox- lutherischen Selbstisolation der sächsischen Kultur. Künstler aus Italien und Frankreich, Dänemark, Österreich und Böhmen strömten nach Dresden, und aus der Verschmelzung ihrer Werktraditionen wuchs der Stil des augusteischen Barock, in der musika- lischen Praxis der königlichen Hofkapelle der »ver- mischte« genannt. Das polnische Königtum brachte also eine um- fassende Internationalisierung und Modernisierung nach Sachsen. Alle Künste wurden durch diese neuen politischen und religiösen Bedingungen beein- flußt. Zugleich bildete sich aber eine lutherisch- orthodoxe und konservative Opposition aus, die vor allem Kirche und Adel umfaßte. Deren Beharren auf dem Althergebrachten ist sichtbar vor allem in der Architektur und deren Ornamentik, aber auch in der Plastik, soweit sie nicht höfisch waren. In den Prospekten der Silbermannschen Orgeln tritt dieser Sachverhalt deutlich hervor. So zeigen die Gehäuse seiner Werke im Freiberger Dom (1714) und in der Dresdner Frauenkirche (1736) noch Unter- teilungen durch kannelierte Pfeiler oder Halbsäulen, wie sie in den Jahrzehnten um 1600 üblich gewesen waren, und von gleicher Herkunft sind die waage- rechten Ornamentbänder unter den oberen Gesim- sen der Orgeln von Forchheim (1726) und Helbigsdorf (1728). Zwickelfüllungen durch kräftig schwingenden Akanthus, wie es im 17. Jahrhundert üblich war, tre- ten bis zur Mitte der 30er Jahre fast überall an den Orgelgehäusen des Meisters auf, nur gelegentlich und wie beiläufig durchsetzt mit dem modernen, aus Frankreich übernommenen sogenannten Laub- und Bandelwerk. Dabei ist es besonders kennzeichnend, daß die Kannelüren der Pfeiler und Halbsäulen an Orgel und Altar der Dresdner Frauenkirche von dem großen Baumeister George Bähr selbst entworfen wurden. Dieses altertümliche Motiv ist charakteristisch für seine Arbeiten, und nicht zuletzt deshalb gilt er als der Baumeister einer sogenannten bürgerlichen Rich- 11 Marmorbüste Augusts des Starken von Paul Herrmann, um 1725. Silbermanns Sachsen
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