Katalog
71 Der einzige Sohn Weit vorausgeeilt, kehren wir nun zurück. Der Roman von Dumas fils stand noch als Ladenhüter in den Regalen, da erschien in Dresden der Potsdamer Handelsgärtner Heinrich Ludwig Heydert. Mehrere Tage lang besichtigte er im Spätsommer 1850 die sächsische Residenz, besuchte Gartenanlagen und botanische Sammlungen. Was er notierte, war nicht immer schmeichelhaft und hätte den Verantwortlichen am königlichen Hofe zu denken geben müssen. Die privaten Gartenbaubetriebe aber ha- ben den Gast beeindruckt. Das Seidelsche Unternehmen übertraf seiner Meinung nach sämtliche Gärtnereien Berlins und man sähe auf den ers- ten Blick, dass hier Geld vorhanden sei. Die miteinander verbundenen Gewächshäuser, der Verlauf der Heizungsanlage, die Technik der Bewäs- serung – all das hielt Heydert für ebenso wichtig wie die Beschreibung der »in üppigstem Grün strotzenden« Pflanzen. Das Interesse des neugierigen Kollegen lässt sich erklären. Um die Mit- te des 19. Jahrhunderts galt es als absolut ungewöhnlich, wenn eine Pri- vatgärtnerei mehr als fünf oder sechs Mitarbeiter beschäftigte. Ganz an- ders im Seidelschen Betrieb. Hier wurden Dutzende von Arbeitskräften benötigt. Gesellen und Lehrlinge, Hilfsarbeiter und Handwerker, Kut- scher und Kontorangestellte hatten oft 12, manchmal gar 14 Stunden am Tag zu tun. In den Gewächshäusern wuchsen neben Kamelien auch Indi- sche Azaleen, Rhododendren und Orchideen. Ihre Pflege erforderte stän- dige Aufmerksamkeit. Ein Teil der Angestellten wohnte daher auf dem Gelände der Gärtnerei. Bei nächtlichen Unwettern oder einem überra- schenden Kälteeinbruch standen sie sofort zur Verfügung. Damals wie heute wurde von einem tüchtigen Gärtner verlangt, dass er »sorgfältig, fleißig und unverdrossen« sei. Der Lohn für diese Tugenden war gering. In Dresden verdiente ein Gehilfe bei freier Verpflegung und Unterkunft etwa drei, maximal fünf Taler in der Woche. Trotzdem konnte sich Seidel die Mitarbeiter aussuchen. Der gute Ruf des Unternehmens veranlasste viele Gehilfen, bei ihm anzuklopfen. In der Regel hatten sie zuvor drei Jahre in einer kleineren Gärtnerei gelernt und wollten nun ihre Kenntnisse erweitern. Der Weg zur Gründung eines eigenen Betriebs blieb den meisten von ihnen allerdings versperrt. Traugott Jacob Herrmann Seidel, dem einzigen Sohn der Familie, eröff- neten sich andere Perspektiven. Er wurde von vornherein auf die Rolle des Geschäftsinhabers vorbereitet. Schon die Kindheit des 1833 gebore- nen Jungen machte das deutlich. Gemeinsam mit der jüngeren Schwester erhielt er Hausunterricht in Französisch, Englisch und Russisch. Die Schulzeit beendete Herrmann in einem Dresdner Privatinstitut, dessen
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