Katalog
72 7 Direktor froh gewesen sein muss, als der selbstbewusste und etwas auf- sässige Zögling die Anstalt verließ. Den Schuljahren folgte die praktische Ausbildung. Im Unterschied zu seinem Vater erwarb Herrmann auch kaufmännische Kenntnisse. Seine Lehrmeister Ludwig Leopold Liebig und Carl Ferdinand Himmelsstoß wa- ren Mitglieder der »Flora« und angesehene Handelsgärtner. Liebig zum Beispiel genoss als Spezialist für Azaleen und Eriken einen hervorragen- den, fast legendären Ruf. Nach der Lehrzeit verließ Seidel die sächsische Residenz und ging ins Ausland. In England arbeitete er in der berühmten Baumschule von John Standish. Die Begeisterung Standishs für Rhodo- dendren sollte sich auf den jungen Mann übertragen und ihn ein Leben lang begleiten. Insgesamt sieben Jahre verbrachte der Dresdner in engli- schen und französischen Betrieben, ehe er 1859 eiligst nach Hause zu- rückkehrte. Der neue Hausherr In der Heimat erwarteten Herrmann Seidel schwere Zeiten. Der seit län- gerem kranke Vater war nicht mehr in der Lage, die Gärtnerei zu führen. Er starb am 13. April 1860. Während seiner Krankheit scheint es mit dem Unternehmen bergab gegangen zu sein. Viele Rechnungen lagen unbe- zahlt im Kontor, die finanziellen Reserven waren erschöpft. Vom guten Ruf des Betriebes allein ließ sich nicht leben, zumal die Mutter keine Einschränkungen im gewohnten Standard duldete. Als ihr Sohn im Au- gust 1860 seine Jugendliebe heiratete, hat es heftige Szenen gegeben. Minna, die Tochter eines Finanzrats, versuchte, der verbitterten Witwe sowenig wie möglich unter die Augen zu kommen. Das Paar bezog eine kleine Dachwohnung im Gebäude der Gärtnerei. Kurz hintereinander kamen hier drei der insgesamt sechs Kinder zur Welt. Herrmann Seidel musste nicht nur die alten Rechnungen der Gärtnerei begleichen und das Geschäft konsolidieren. Genauso wichtig und für die Zukunft des Unternehmens noch grundlegender ist eine Reihe von Verän- derungen gewesen. Die gesamte Produktion wurde gestrafft, das riesige Sortiment an Kamelien radikal eingeschränkt. Von den über 1100 Sorten behielt der neue Inhaber kaum die Hälfte im Angebot. Das lag vor allem daran, dass sich die Zeit und mit ihr die Nachfrage geändert hatte. Der vermögende Liebhaber seltener Pflanzen verlor als Kunde mehr und mehr an Bedeutung. Statt dessen kauften auswärtige Gärtner die Jungpflanzen jetzt direkt bei den großen Spezialbetrieben, um sie dann in den eigenen Gewächshäusern zu kultivieren. Die wach-
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