Katalog
108 J ustiz Er soll in der kurzen Zeit seiner Tätigkeit an diesemGericht den Beinamen »Völkischer Beobach- ter« erhalten haben, 5 offensichtlichweil er der Partei über die politische Haltung seiner Kollegen berichtet haben soll. Doch bald sollte sich ein neues, für Thierack angemesseneres Amt finden. Thierack als Präsident des Volksgerichtshofes Thierack wurde am 1.Mai 1936 zum Präsidenten des Volksgerichtshofs (VGH) ernannt. Dieser war kurz nach demFreispruch kommunistischer Funktionäre, unter anderemGeorgi Dimitroffs, im »Reichstagsbrandprozess« errichtet worden. Seine Gründung beruhte jedoch eher auf mit- telfristigen Bestrebungen, in effizienten Strafverfahren die politischen Hauptgegner aburteilen zu können. 6 Dem VGH wurden die bisher dem Reichsgericht vorbehaltenen erstinstanzlichen Zuständigkeiten für Hoch- und Landesverratssachen übertragen. Später kamen auch Straftaten nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, zum Beispiel Wehrkraftzersetzung, hinzu. Etwa zeitgleichmit der Ernennung Thieracks wurde der VGH ordentliches (Straf-)Gericht, stand damit auf gleicher Stufe wie das Reichsgericht; ihm wurde eine selbständige Reichsanwaltschaft als Anklagebehörde angegliedert. Bekannt und berüchtigt ist vor allem die Verhandlungs- und Spruchpraxis des VGH unter Roland Freisler, dem Nachfolger Thieracks ab 1942. Aber schon unter Thierack begann die Ent- wicklung zu einer reinen Terrorjustiz, die auch durch die Ausdehnung der Strafgewalt auf das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren sowie durch die Kriegssituation beeinflusst wurde. 7 Eine die Konturen im politischen Strafrecht verwischende Auslegung und eine exzessive Straf- zumessungspraxis setzte bereits während der Präsidentschaft Thieracks ein, wie der eingangs geschilderte Fall Elias und der Anstieg der Todesurteile zeigen. Ideologisch überhöhte Thierack, der sich gerne als »Chefpräsident« titulieren ließ, die Arbeit am VGH als »Kampf auf Leben und Tod« für das Volk und sah die Richter seines Gerichts »im Schützengraben« gegen die politischen Gegner des Nationalsozialismus kämpfend. Seine Bemü- hungen, die von ihm begehrte Sonderstellung des VGH auch dadurch zu erreichen, dass das Gericht Hitler direkt unterstellt wurde, blieben allerdings erfolglos. Zu seiner Auffassung der Rechtsprechungsaufgabe des VGH schrieb Thierack kurz nach seinemAmtsantritt: Der Richter müsse »auch erfassen können, welche Aufgaben und Ziele der Nationalsozialismus sich und seinemVolke stellt [...]«. 8 Er forcierte deshalb eine entsprechende Schulung und Erziehung der Richter. Die von ihm geforderte politische Rolle des Richters und damit die Veränderung der Funktion des Strafrechts lässt sich insbesondere seinen späteren Verlautbarungen als Reichsjustizminister entnehmen: »Im allgemeinen muss sich der Richter des Volksgerichtshofs daran gewöhnen, die Ideen und Absichten der Staatsführung als das Primäre zu sehen, das Menschenschicksal, das von ihm abhängt, als das Sekundäre. Denn die Angeklagten vor demVolksgerichtshof sind nur kleine Erscheinungsformen eines hinter ihnen stehenden größeren Kreises, der gegen das Reich kämpft.« 9 Das Strafrecht hatte nach der NS-Doktrin die Aufgabe, die »Volksgemeinschaft«, derenWillen allein die NS-Führung zum Ausdruck brachte, zu schützen und denjenigen, der sich gegen sie stellte, aus der Gemeinschaft auszustoßen und »auszumerzen«. Die »Volksgemeinschaft« wurde zumhöchsten Rechtsgut stilisiert. So kam es zur Verlagerung von der Strafbarkeit der Tat auf die Strafbarkeit des – gegen den NS-Staat und damit gegen die Gemeinschaft gerichteten – verbre- cherischen Willens, zur analogen Anwendung von Straftatbeständen zuungunsten des Täters, zu einem Ausufern des Strafrahmens und zum Abbau prozessualer Rechte des Angeklagten.
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