Katalog

20 Die Schaffensjahre Jawlenskys von 1911 bis 1914 sind von tiefgreifenden stilistischen und koloristischen Wandlungen geprägt. Seine erste große Einzelausstellung sowie die Beteiligung an wichtigen Ausstellungen jener Jahre machten ihn für ein immer breiteres Publikum sichtbar und erkennbar. Verkäufe seiner Werke an Sammler und Museen fanden immer häufiger statt. In München gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Neuen Künstlervereinigung München, die sich von 1909 bis 1912 tapfer und selbstbewusst den oft äußerst negativen Kritiken der damaligen Presse stellte und ihre Gruppenausstellungen nicht nur in München, sondern auch in anderen deutschen Städten in den Räumlichkeiten von zukunftsorientierten Galeristen und Museumsleitern der Öffentlichkeit präsentierte. Vor 1911 hatte sich Jawlensky aktiv und konstruktiv mit der Malerei seiner Vorbilder Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Paul Gauguin und Henri Matisse auseinandergesetzt, um ab 1908/09 zu dem ihm eigenen Stil und zur ihm eigenen Farbensprache zu gelangen, die ihm ganz gehörten, die er klar beherrschte und bewusst einsetzte, um seine künstlerischen Ziele zu erreichen. In jenen Jahren suchte er nach einer Farb- und Formensprache, die es ihm ermöglichen konnte, sein Innerstes auszudrücken, Emotionen und Gemütszu- stände pur und in einem »eins zu eins Maßstab« direkt auf den Bildträger zu übertragen, kompromisslos und ohne Umwege oder intellektuelle Windungen. Die stilisierten, schnörkellosen, elementaren Formen der Dargestellten wurden durch dunkelblaue Konturen festgelegt, effektiv »fest gelegt«. Die lapidare Formen­ sprache gestaltete Kraftvolles, weil nur die so formulierte Form zur Urform der einzelnen Figuren, Köpfe und Gegenstände werden konnte und diese »fest hält«. Im Bereich der Farben hatte Jawlensky schon früh erkannt, was er durch sie suchte. In seinen Lebens­ erinnerungen berichtete er den Zeitraum 1903 – 1906 betreffend: »So arbeitete ich viele Jahre lang, suchend, um meine eigene Sprache zu finden. Meistens malte ich damals Stilleben, denn in ihnen konnte ich leichter mich selbst finden. Ich suchte intensiv in diesen Stilleben nicht den stofflichen Gegenstand, sondern wollte durch Farben und Formen das ausdrücken, was in mir vibrierte, und ich bin zu guten Resultaten gekommen.« 1 (vgl. Kat.-Nr. 3) Es ist bemerkenswert, wie Jawlensky, der kein Theoretiker war, mit einfachen Worten präzise, luzid das sagen konnte, was den Kern seiner Bestrebungen bildete. Das Stillleben, diese Anreihung lebloser Gegen- stände, fordert vom Künstler keine Interpretation und Wiedergabe des Charakters, des Gemütszustandes und der inneren Stimmung, wie es die Darstellung einer lebenden Person verlangt, in deren Persönlichkeit er sich einfühlen musste. Die Gegenstände liefern nur Formen, die er durch Farben mit dem füllen kann, was in ihm lebt und das er offenbaren will und bereit ist zu offenbaren. Das Stillleben mutiert zur Selbstdarstel- lung, was kein Selbstbildnis sein will, denn es geht um die Offenbarung des »Selbst«, also des »Ich«: eine viel freiere und umfassende Entität als ein Bildnis, ein Abbild des Gesichtes. Die Selbst-Darstellung kann sich auf der Bühne des Stilllebens beliebig verschleiern, offenbaren, entziehen oder eine symbolische Deutung fördern, allerdings kann sie dem Künstler nicht die Sicherheit geben, vollkommen verstanden und erkannt zu werden. Sie gestattet ihm eine schrittweise Annäherung an die eigene Offenbarung, die eine komplexe und langwierige innere Entwicklung benötigt. Anders sieht es für die Jahre ab 1911 aus, wo Jawlensky nur sporadisch Stillleben malte und sich deutlich auf Frauenköpfe, selten auf männliche Köpfe, und Landschaften konzentrierte. Der Sommeraufenthalt in Prerow mit Marianne von Werefkin, mit seiner Lebensgefährtin, Muse und späteren Ehefrau Helene Nesna- komoff und dem gemeinsamen Sohn Andrej, bedeutete eine wichtige und bewusste Wendung in seinem Schaffen. In den Lebenserinnerungen berichtete er: »Im Frühling 1911 fuhren wir nach der Ostsee nach Prerow, Werefkin, André, Helene und ich. Dieser Sommer bedeutete für mich eine große Entwicklung in meiner Kunst. Ich malte dort meine besten Landschaften und große figurale Arbeiten in sehr starken, glü- henden Farben, absolut nicht naturalistisch und stofflich. Ich habe sehr viel Rot genommen, Blau, Orange, Kadmiumgelb, Chromoxydgrün. Die Formen waren sehr stark konturiert mit Preußischblau und gewaltig aus einer inneren Ekstase heraus. So entstanden Der Buckel [Kat.-Nr. 81], Violetter Turban [Abb. 1], Selbstportrait [Abb. 2] […], Fantasiekopf [Abb. 3] […]. Dies war eine Wendung in meiner Kunst. Und bis 1914, gerade vor dem Krieg, habe ich in diesen Jahren meine stärksten Arbeiten, die unter dem Namen ›Vorkriegsarbeiten‹ bekannt sind, gemalt. […] 1912 entwickelte ich weiter das, was ich in Prerow angefangen hatte. Ich arbei- tete sehr viele starke Bilder, die fast alle in Museen oder Privatsammlungen sind.« 2 In Prerow entstanden also seine »besten Landschaften«, wovon einige Dünen und Hügel mit den vom Wind gebeugten Bäumen darstellen (Abb. 4), andere wiederum Häuser oder die Dorfkirche zeigen. Die ersten leuchten in starken Farben, die innerhalb der dunkel konturierten, stilisierten Formen der einzelnen Teile der Komposition dem Betrachter entgegenstrahlen, einen fast mediterranen Eindruck vermittelnd. Der sehr bewegte Pinselduktus beschreibt den oft in dieser Gegend wehenden Wind und lässt die Wildheit der Natur erahnen. Jawlensky gelang es, die Besonderheiten dieser Gegend und sogar des dortigen Klimas einzufangen, gepaart mit den eigenen emotionsgeladenen Eindrücken und Stimmungen. A n g e l i c a J aw l e n s k y B i a n c o n i »Nicht in die Breite gehen, sondern in die Tiefe« Alexej von Jawlenskys künstlerischer Weg von 1911 bis 1914

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