Katalog
22 Dies erreichte er teilweise bereits in den Murnauer Landschaften. So mag sein retrospektives Urteil (die Lebenserinnerungen wurden in den späten 1930er Jahren diktiert) »meine besten Landschaften« über jene aus Prerow überraschen. Jedoch wirken die in Murnau gemalten Aussichten anders, da es Jawlensky hier noch um die Verwirklichung des Prinzips der Synthese geht, jenes von einigen französischen Künstlern der Jahrhundertwende übernommene Ziel, in der Malerei die Verschmelzung von Gesehenem und Erlebtem, den Einklang von Farbe und Form in einer Gesamtheit zu erreichen. Mehrmals zeigen Jawlenskys Werke aus der Murnauer Zeit (Kat.-Nr. 8) fast monochrome Farbzonen, die in überaus stilisierte Formen eingebettet sind, womit eine geballte Spannung entsteht und die Eigenwerte der einzelnen Farben sowie die Wirkung eines bestimmten Farbakkordes oder Farbenklanges ausgelotet werden kann. In Prerow malte er »absolut nicht naturalistisch und stofflich«, aber »aus einer inneren Ekstase heraus«. Die Dünen mussten keineswegs die Farbe des Sandes haben (Abb. 5), denn es ging nicht mehr darum, Natur zu beschreiben oder mit der Wirkung gewisser Farben zu experimentieren. Nun kam zum Vorschein, was aus der inneren Ekstase heraus- trat: die innerliche Landschaft, die sich jener Formen und Farben bediente, die ihr nötig waren, um sich dar- zustellen. Die real gesehene Umgebung wurde zur willkommenen Bühne, auf der sich die innere Gefühlswelt des Künstlers entfalten konnte.Ähnlich wie Jahre zuvor die Gattung des Stilllebens, in der er leichter sich selbst finden konnte, übernahm nun die Landschaft die Rolle des Projektionsortes des eigenen Ichs. Die Köpfe, die Jawlensky 1911 und 1912 malte, beschränken und konzentrieren sich meist auf die Dar- stellung des Kopfes, Halses und Schulteransatzes. Die in Preußischblau festgelegten Formen erzeugen eine notwendige Eindämmung der geballten Ausdruckskraft der feurigen Farben, die hingegen dank dieser Eingrenzung noch gewaltiger zu ihrem Ausdruck gelangen. Große, geöffnete Augen blicken den Betrachter an, suchend, anklagend, verführend oder abstoßend. Die Dargestellten sind ursprünglich eindeutig identifi- zierbare Personen: Helene, 3 Katharina Konstantinowka (Kat.-Nr. 12) oder ein Modell. Aus der Wiederholung des Sujets – eine Prozedur, die für Jawlensky das Variieren und Vertiefen bedeutet – entwickelt sich jedoch bald ein Typus, ein Topos: die weibliche Urkraft, archaisch und mysteriös, faszinierend und beängstigend zugleich. Das machtvolle, universelle weibliche Prinzip, das gebärend und erdverbunden zugleich sinnlich und grausam sein kann, das dem Männlichen an inneren Kräften überlegen ist und in dessen Macht es steht, ihn abzulehnen oder zu erhöhen. Jawlensky malte 1912 drei Varianten der Prinzessin Turandot (Abb. 6), der grausamen Prinzessin, die alle edlen Heiratskandidaten köpfen ließ, die nicht imstande waren, drei symbolträchtige Fragen zu beantworten. Sie heiratete schließlich denjenigen, der die Rätsel mühelos löste, jedoch nicht ohne mit sich selbst gekämpft zu haben und ihre tiefe Abneigung gegenüber den verräterischen und verlogenen Männern überwunden und den Sieger fast zu Tode gebracht zu haben. Die Prinzessin Turandot (Kat.-Nr. 84) zeigt ihr Antlitz in kalten Farben, mit dem tief dunkelblauen, verschlossenen Mund und einer heißroten Aura hinter ihrem Kopf: die verdrängte und doch unausweichliche Bereitschaft zur Liebe in ihr. Ihre rechte Schulter ragt in den Vordergrund, leuchtend gelb und aggressiv ablehnend: die »kalte Schulter«. Ihre linke Schulter verschmilzt mit dem Hintergrund, wo der untere Teil der heißen Aura mit kalten Blautönen der Halspartie zu kämpfen scheint. Die ganze Dramatik und Dynamik des inneren Kampfes der stolzen Frau und Prinzessin wird in diesem Gemälde offenbart, wobei man erahnt – die rundliche Gesichtsform, die rote »Liebesaura« –, dass sie kurz davorsteht, sich der Liebe zu ergeben. Turandot II (Abb. 7) scheint noch in ihrer grausamen Ableh- nung eingesperrt zu sein. Ihr Gesicht ist von spitzen, eckigen Konturen eingerahmt, der dunkelblaue Mund ist von einer kalten Ausmischung aus Blau und Weiß umrandet, ihre rot-orangefarbenen Wangen scheinen wutentbrannt. Die massive Hals- und Schulterpartie ist klar definiert und auch hier leuchtet ihre rechte Schulter in Gelb. Ihr Blick ist ungebrochen, ihr rechtes Auge etwas schief angelegt, die obere Linie des Auges geht mit einer kantigen Linie weiter und stellt die Nase dar. Der gesamte Hintergrund ist wieder in einer kalten blau-weißen Ausmischung gemalt. Fast lieblich mit ihren sanfteren, sinnlichen Formen die eine, spitz, eckig und in sich selbst verschlossen die andere. Aus Prerow sandte Jawlensky seine dort gemalten Werke nach München und fuhr mit Marianne von Werefkin nach Barmen, wo seine erste große Einzelausstellung in den ersten Tagen des September 1911 in der Ruhmeshalle eröffnet wurde und einen großen Erfolg mit sich brachte. Rund 80 Werke hingen in den Räumlichkeiten neben 16 Werken von Wladimir Bechtejeff. Schon nach wenigen Tagen konnte Jawlensky mehrere seiner Werke verkaufen, wie es in einer Ausstellungskritik vom 9. September 1911 in der Barmer Zeitung zu lesen war. Insgesamt wurden 16 Gemälde verkauft, was einen erstaunlichen Erfolg für den Künstler bedeutete. Im Dezember des Jahres wurden 37 seiner in Barmen ausgestellten Werke im Landesmuseum in Münster gezeigt. Diese Ausstellung wurde vom Westfälischen Kunstverein organisiert, der 40 Werke direkt aus Barmen Ende November nach Münster kommen ließ. In Münster gab es positive wie negative Kritiken auf die Gemälde, und es wurden zwei weitere Arbeiten verkauft. Abb. 5 Die Dünen von Prerow [CR 425], 1911, Öl auf Malkarton, 32,5 × 44,5 cm, Fridart Foundation, Amsterdam
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