Leseprobe

35 Abb. 1 Unteroffizier Otto Dix mit Stahlhelm 1916/17 / Photo aus dem Nachlass Marga Kummer (SLUB Dresden) »Dann gehts wieder in die schöne Läuse-Schlampagne«1. Otto Dix im Ersten Weltkrieg Otto Dix wurde laut Militärpass am 22. August 1914, einem Samstag, als »Ersatz-Reservist« in Dresden eingezogen.2 Hinter diesem lapidaren Eintrag verbirgt sich die komplexe Rekrutierungspraxis des deutschen Kaiserreichs, die auch Dix erfasste. Wahrscheinlich hatte er sich Ende 1911 oder Anfang 1912, nach seinem 20.Geburtstag am 2.Dezember 1911, mithin mit Erreichen des im Kaiserreich geltenden »wehrpflichtigen Alters« und innerhalb einer vorgeschriebenen Frist bei seiner Ortsbehörde, wohl in Gera, zu melden. Dort erfolgte die Eintragung in die sogenannte Rekrutierungsstammrolle. Diese gut durchorganisierte Erfassung der Wehrpflichtigen bedeutete allerdings nicht, dass sie auch eingezogen wurden und aktiv ihre Dienstzeit absolvieren mussten. Das vorhandene Potenzial von Wehrpflichtigen im Kaiserreich wurde auch noch in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg nur zu circa 47 Prozent ausgeschöpft – im Vergleich: in Frankreich waren es kurz vor dem Krieg circa 80 Prozent aller Wehrpflichtigen –, und selbst die noch im Juli 1913 im Zeichen des drohenden und teils auch herbeigewünschten Krieges beschlossene Heeresvermehrung, das heißt, die Aufstockung des vorhandenen Friedensheeres von gut 640000 auf über 800000 Mann, änderte daran wenig.3 Über die eigentliche Verwendung der so Registrierten entschieden jeweils die 24 Ersatzbehörden des Reiches; im Falle von Dix war dies die Ersatzbehörde innerhalb des XII.Stellvertretenden Generalkommandos in Dresden, das wiederum über Musterungsbezirke verfügte, bei deren Behörden sich die Registrierten und zur Musterung bestimmten jungen Männer vorzustellen hatten.4 Angesichts des Überangebots von Voll-Tauglichen bestimmte schließlich ein Losverfahren, wer von ihnen tatsächlich eingezogen wurde. Jene Wehrpflichtigen mit einer höheren Losnummer, zu denen auch Dix gehört haben dürfte, kamen dann zur Ersatz-Reserve (und nicht zum Landsturm).5 Die ErsatzReservisten waren zwar gemeinhin von Übungen im Frieden befreit, doch zum schnellen Personalersatz des Heeres im Kriegsfall bestimmt. Dieses Schicksal ereilte auch Otto Dix im August 1914. Die Kerndaten im Militärpass, mithin in jenem militärischen Dokument, das Dix für die Dauer seiner Dienstzeit begleiten sollte, sind in der üblichen, verknappten Form abgefasst und lauten: Wilhelm Heinrich Otto Dix, geboren am 2. Dezember 1891 zu Gera-Untermhaus im Verwaltungsbezirk Gera, im Bundesstaat Reuss jüngere Linie, 171 cm groß, seines Zeichens »Kunst Akademiker«, ledig und evangelisch-lutherischen Glaubens. Zugeteilt wurde er zunächst dem 1. Rekruten-Depot des Feldartillerie-Regiments 48 in Dresden, knapp zwei Monate später, am 18.Oktober, dem 3.Rekruten-Depot des Feldartillerie-Regiments 12 in Dresden, also zu Einheiten, die den bald dringend an der Front benötigten Personal-Ersatz zu liefern hatten. Am 5.September 1914 kam es zur Vereidigung, vier Tage später erfolgten die Impfungen, vermutlich – ohne dass dies im Militärpass vermerkt wäre – die damals im deutschen Heer üblichen gegen Scharlach, Cholera und Typhus. Am Tag des Eintritts von Dix in die Königlich Sächsische Armee am 22. August 1914 dauerte der Weltkrieg schon über drei Wochen an und bewegte die Menschen an den Fronten und in der Heimat. Doch Dix haben offensichtlich weder die »Siege« der ersten Tage noch die früh zu verzeichnenden Rückschläge animiert, sich freiwillig zu melden.6 Das ist umso erstaunlicher, als sich der gesellschaftliche Druck zur freiwilligen Meldung gerade in den Augusttagen beständig erhöhte. Zwar war die Zahl der Kriegsfreiwilligen in den ersten Wochen des Krieges wesentlich geringer, als es die propagandistischen Aufblähungen – von einer oder gar von zwei Millionen war in Deutschland die Rede – vermuten ließen. Aber zugleich verkörperte sich in ihnen im sprichwörtlichen Sinne der Krieg als nationales und gemeinschaftliches Projekt in einer Gesellschaft, die sich Bernd Ulrich

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