Leseprobe

36 gerade – nicht zuletzt in Künstlerkreisen – als eine ambitionierte Verbrüderung »gegen eine Welt von Feinden« inszenierte.7 Doch die Kriegsbegeisterung konzentrierte sich auf zentrale, symbolisch aufgeladene städtische Orte, sie wurde vornehmlich von bildungsbürgerlichen Eliten propagiert und keineswegs nur getragen von hehren nationalen Gefühlen. Diese sind auch bei Dix vorderhand nicht zu finden. Zwar wissen wir bis heute wenig über seine eigentliche mentale Verfassung bei Kriegsbeginn. Doch das Bild, das sich von ihm im August 1914 ergibt – zusammengesetzt aus einer Vielzahl zeitgenössischer und späterer Selbst-Äußerungen in Briefen, auf Postkarten und in Gesprächen sowie nicht zuletzt aus seinem bis dahin vorgelegten zeichnerischen und malerischen Werk –, ist relativ scharf konturiert. Es ist das Bild eines selbstbewussten, stilerprobten, die Alten Meister ebenso wie die zeitgenössische Malerei studierenden und nach Ruhm strebenden jungen Künstlers, der vor allem eins will: »Auf den Arsch setzen und malen, und wenn der Kaiser kommt.«8 Diese Bedingungslosigkeit im »Malen wollen« und die damit verbundene Wahrnehmung seiner selbst und der ihn umgebenden Welt als Motivreservoir spielten vermutlich auch in seiner Einstellung zum beginnenden Krieg die zentrale Rolle, in den er zwar nicht kriegsfreiwillig, aber skeptisch entschlossen zog. »Man muß ja sagen können, ja zu den menschlichen Äußerungen, die da sind und immer sein werden«, äußerte Dix in einem Gespräch mit Fritz Löffler im August 1957.9 Die dafür notwendige Empathie mag ihm – wie vielen seiner Zeitgenossen – ein Teil der Philosophie von Friedrich Nietzsche gegeben haben, mit der er sich seit 1911 und bis an sein Lebensende auseinandersetzte.10 Die willensstarke Bejahung des Lebens und seiner Anforderungen, die virile Neugier auch auf das Hässliche und Entsetzliche und die kreative Umsetzung des dabei Gesehenen – das sind die Grundpfeiler der Dixschen Ästhetik im August 1914. Auch in einer seiner bekanntesten, jedenfalls immer wieder zitierten Äußerungen zum Kriegsbeginn ist der Einfluss seiner Nietzsche-Lektüre unverkennbar; sie lautet in ihren Kernsätzen: »Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen!«11 Allerdings geschieht genau das – Dix »versäumt« zunächst den Krieg, jedenfalls den an der Front! Denn nach seinem Eintritt in die Armee verbleibt er fast auf den Tag genau 13 Monate lang in der Heimat zur wechselnden Ausbildung. Diese über ein Jahr andauernde Ausbildung ist erklärungsbedürftig und – vor dem Hintergrund der massiven Verluste vor allem in der kurzen Phase des Bewegungskrieges im Westen zwischen August und November 1914 und der daraus resultierenden desolaten Ersatzlage des deutschen Heeres – zumindest erstaunlich. Gewiss, es hat in manchen Fällen für bis dahin unausgebildete Reservisten längere Ausbildungszeiten gegeben, aber doch eher als Ausnahme und keinesfalls solche, die während des Krieges länger als sechs Monate dauerten. Dix’ überlange Ausbildungszeit lässt den Betrachter ebenso ratlos zurück wie die Tatsache, dass er in dieser Zeit in erstaunlicher Quantität in der Lage war, nicht nur zu zeichnen, sondern auch in Öl zu malen. Hatte er während seiner Ausbildung in Dresden weiterhin Zugang zu einem Atelier, etwa in der Kunstgewerbeschule, oder konnte er in seiner »hübschen großen Bude« in der Dresdner Johannstadt, Elisenstraße 45, arbeiten?12 Es könnte so gewesen sein, denn es ist recht unwahrscheinlich, dass man ihm in der Kaserne einen Raum zur Verfügung gestellt oder ihm, dem einfachen Soldaten und zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Maler, überhaupt erlaubt hat, innerhalb der Kasernenmauern künstlerisch tätig zu sein. Dix »versäumt« den Krieg

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