Leseprobe

169 »Überraschender Fund beim Meisterschüler: Nach 40 Jahren tauchten vier Skizzen zum Triptychon ›Der Krieg‹ von Otto Dix auf« – so lautete die Schlagzeile in einer Ausgabe der Zeitschrift »stern« aus dem Jahr 1975.1 Tatsächlich handelte es sich bei den »vier Skizzen« um die lange verschollen geglaubten Kartons zu einem der bedeutendsten Gemälde von Dix.2 Die Wertschätzung von Kartonentwürfen ist in der Kunstgeschichte starken Schwankungen unterworfen gewesen. Als Arbeitsbehelf stellen sie im Allgemeinen nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zum eigentlichen Kunstwerk dar. Während in der Renaissancezeit der Karton als eigenständige künstlerische Aussage verstanden wurde, ging das Interesse in der Barockzeit zurück, um im Historismus erneut aufzuleben. Besondere Bedeutung erhalten Kartons dann, wenn das eigentliche Kunstwerk nicht mehr existiert, wie zum Beispiel die Entwürfe von Otto Dix zu einem Wandbild im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, das kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstört wurde. Die Bedeutung, die der Künstler selbst dem Medium Karton zumaß, zeigt sich an einem Porträt von Franz Fiedler, für das er vor dem Entwurf des Gemäldes »Triumph des Todes« posiert (Abb. 1). Die Kartons zum Kriegstriptychon lagerten während des Zweiten Weltkriegs im Dresdner Atelier von Dix in der Kesselsdorfer Straße 11. Betreut wurde dieses Atelier, nachdem Dix seit 1936 in Hemmenhofen wohnte und nur noch einmal jährlich nach Dresden kam,3 von Ernst Bursche, einem Schüler des Künstlers aus seiner Dresdner Akademiezeit. Auf nicht ganz geklärte Art und Weise sind die Kartons in den Besitz Bursches übergegangen und wurden von diesem dann 1975 an die Galerie Brockstedt in Hamburg verkauft.4 Über den Erhaltungszustand äußerte sich Ernst Bursche in einem Brief an Fritz Löffler, in dem er den Verkauf rechtfertigte, folgendermaßen: »Der Erhaltungszustand sowohl der Entwürfe zum Kriegsbild als auch derjenigen zum Wandbild im Hygienemuseum, dessen Mittelteil nur zur Hälfte vorhanden ist, war sehr schlecht. Sie mussten dringend restauriert werden. Den erheblichen Betrag, der dafür verlangt wurde, konnte ich aber nicht aufbringen. So habe ich den Carton zum Wandbild vor einer Reihe von Jahren und den zum Kriegs-Triptychon im letzten Jahr verkaufen müssen.« 5 Die Galerie Brockstedt veranlasste nach dem Erwerb die Restaurierungsmaßnahme, die vom Atelier Klein in Köln durchgeführt wurde, und präsentierte die Kartons anschließend auf der Baseler Kunstmesse 1975.6 Bevor die Hamburger Kunsthalle 1978 die Kartons für eine Summe von 220 000 DM erwarb, stellte sie die Galerie 1977 in einer Ausstellung des Kunstvereins in Hamburg einem größeren Publikum vor.7 Mit dem »Fund« der Kartons schloss sich eine Lücke im Wissen um den Entstehungsprozess des Gemäldes, der darüber hinaus mit zwölf Studien- und Skizzenblättern, in denen Dix verschiedene Kompositionsideen formuliert hatte, und mit der vermutlich einzigen farbigen Entwurfszeichnung zum Gemälde dokumentiert ist (Abb.S.160–167). Nimmt man seine schriftlichen Selbstaussagen bezüglich der Maltechnik hinzu, lässt sich seine Vorgehensweise nun auch in kunsttechnologischer Hinsicht rekonstruieren. In einer 1958 für die »Washington School of Art« ausgearbeiteten Lehreinheit beschreibt Dix den ersten Arbeitsschritt folgendermaßen: »Bei Anwendung unserer besonderen Maltechnik muss man sich über die Komposition vollkommen klar sein. […] Fangen Sie mit kleinen groben Bleistiftskizzen an. Machen Sie viele davon, halten Sie sich daran, bis die Komposition in ihrer Vorstellung unmissverständlich klar ist.« 8 Mit »besonderer Maltechnik« bezieht sich Dix auf die von ihm seit Mitte der 1920er Jahre angewandte Lasurmalerei, ein Verfahren der Frührenaissance, zu dessen Voraussetzung die Festlegung der Komposition des Bildes schon vor dem eigentlichen Malprozess gehört, da später durchgeführte Veränderungen durch die Transparenz des Malmittels immer sichtbar bleiben würden. Olaf Simon Wege zum Bild – die Kartons Abb. 1 Franz Fiedler Bildnis Otto Dix vor dem Karton zum Gemälde »Triumph des Todes« (Ausschnitt) 1933 / Brauner Bromöldruck / 370 × 270 mm / Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv.-Nr. D 1933-8

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1