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Wer seine Kindheit im real existierenden Sozialismus als Paradies bezeichnet, kann in den Verdacht geraten, nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Wie kann es ein schönes Leben im falschen gegeben haben? Doch es ist nicht nur die Sehnsucht nach Harmonie oder gar Ver- drängungskunst, die solche Erinnerungen hervorbringt. In jenen frühen Jahren nach Ende des Krieges, in denen der staatliche Sozialismus noch nicht gegen alle Widerstände und in allen Schichten erzwungen worden war, verband sich die Sehnsucht nach Freiheit mit einer Aufbruchsstimmung und einer Lebensfreude, die nicht gänzlich mit dem antifaschistischen Aufbauprojekt verschmolzen. Für Kinder schon gar nicht. In der allgemeinen Wahrnehmung war Dresden nach 1945 eine zerstörte Schönheit, die sich nie wieder erholen würde. »Auferstanden aus Ruinen«, so begann zwar die Hymne der DDR, aber wie sollte die untergegangene barocke Schönheit je wieder auferstehen? Die Bewohner der Kinderwelt konnten die Zerstörung ausblenden, zumal wenn sie außer- halb der Trümmerlandschaft aufwuchsen. In Dresden-Bühlau war die Welt heil. Selbst wenn man Trümmer sah, bei Besuchen in Striesen etwa, wußte man doch genau, daß sie zu einer anderen Welt gehörten, ebenso wie die fetten, kreischenden russischen Frauen, die man an manchen Tagen in der Elbe badend antraf, und die wie Wesen von einem anderen Stern wirkten. Das Paradies im Osten, das war in der Erinnerung des Kindes das große (in Wirklichkeit eher bescheidene) Haus in der Königsberger Straße. Die Familie hatte es von einem in den Westen übergesiedelten Freund übernommen. Die Mutter war freiberufliche Theaterkriti- kerin. In ihren Artikeln und Briefen aus jener Zeit scheint eine Denkwelt durch, deren Pfeiler die christlichen Religionen und die Philosophie und Dichtung des 18. Jahrhunderts waren. Die Sprache und das Denken entsprangen der Zwischenkriegszeit, in der man über »Weltan- schauungen« räsonierte. Sie und ihre Freunde nahmen begierig auf, was Hans Sedlmayr ver- kündete: Ursache der erlittenen Katastrophe sei ein allgemeiner »Verlust der Mitte« (1948). Die SED umwarb Intelligenzler wie sie und bezahlte ihre Sommerferien auf Hiddensee.

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