Katalog
Deutschland war geteilt. Gleichwohl war der Westen präsent im Osten, ebenso wie die Vor- kriegszeit. Freunde und Berufskollegen aus dem Westen und aus West-Berlin, Journalisten vom RIAS kamen zu Besuch. In der Stadt gründeten sich Diskussionszirkel. Die Baronin Seiler unterhielt einen, in dem heimgekehrte Soldaten sich mit Künstlern, Musikern, Schriftstellern und Theologen trafen und darüber sprachen, was eigentlich geschehen war – und wie es hatte dazu kommen können. Mutter und Vater nahmen regelmäßig teil. Sie lasen viel von dem, was verboten gewesen war – und wieder verboten werden würde. Das »Tal der Tränen«, wie die soziale Landschaft um Dresden später genannt wurde, war nach 1945 eine blühende Kulturstätte. Wir lebten bürgerlich: Das Klavier, auf dem die Mutter ab und an Chopin spielte, die Kinderfrau, eine »Oma«, deren genaue Zugehörigkeit zur Familie irgendwie unklar war, eine Tante, die immer bereit stand, die Kinder zu nehmen, wenn Mutter, Vater oder der Freund der Mutter, aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, beruflich unterwegs waren. Die Mutter besprach Neuinszenierungen am Theater. Wenn sie vor dem Ausgehen in ihrer Abendrobe, von Parfüm umweht, ins Kinderzimmer gerauscht kam, um »Gute Nacht« zu wünschen, badeten wir in ihrem Geruch. Zum Paradies gehörte der barfüßige Gang morgens in den Garten und der Geruch der reifen Tomaten, das Eiscafé Toscana, in dem das Eis in eine Muschelwaffel gepackt wurde. Der Weg war weit, von der Königsberger Straße über die Grundstraße oder die Plattleithe und über das Blaue Wunder, aber er war es wert. Paradiesisch waren die langen Sommertage im Schwimmbad, für die wir uns mit trockenem Brot, Salz und Tomaten aus dem Garten versorgten. Der Geruch der gleich ans Haus grenzenden Dresdner Heide zog die Nase her- auf, die Ausflüge ins Elbsandsteingebirge, die Urlaube an der tschechoslowakischen Grenze, die Fahrten mit dem Raddampfer nach Bad Schandau... Das Paradies hörte selbst dann noch nicht auf, als ich in die Schule kam. Der junge blonde Klassenlehrer war ein glühender Antifaschist; der Fahnenappell feierlich bis zur Erregung von Gänsehaut. Ich verstand die Welt nicht mehr, als die Mutter mit den Worten »nicht noch ein- mal!« ihren Kindern verbot, in die Jungen Pioniere beziehungsweise in die FDJ einzutreten.
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