Katalog
Und dann zog die Unruhe ins Haus ein. Sie war bei allen präsent, bei Vater, Mutter, Freund, Oma, Tanten, Kindern. Sie begann mit geflüsterten Gesprächen unter den Erwachsenen, von denen ich Bruchstücke aufschnappte, irgendwelche Männer würden vielleicht kom- men, die Hintertür des Hauses sollte immer unabgeschlossen bleiben, der bösartige Partei- chef an der UNION... Eines Tages waren der Vater und die beiden ältesten Geschwister verschwunden. Es hieß, sie seien auf eine lange Reise gegangen. Mehr wurde uns nicht gesagt. Von da an gab es noch mehr Getuschel unter den Erwachsenen, das abrupt verstummte, wenn eins der Kinder sich näherte. Es nahte der Sommer 1952. Wochen vor dem Beginn der Schulferien packte die Mutter Pakete. Sie sagte, sie würde Gepäck vorausschicken. Denn wir würden in die großen Ferien fahren. Das taten wir auch – und kamen nie zurück. Von da an begann für mich der graue Nachkrieg. Der Osten war für mich schön gewesen, der Westen aber war häßlich. Im Osten hatte ich ein gutes Leben gehabt, trotz Armut und Kartoffelschalenessen. ImWesten wurde ich mit der ganzen Familie zum Almosenempfänger. Im Osten »waren wir wer«, im Westen gehörten wir zu den »Flüchtlingen«. In Dresden wußte man, wann Sommer war und wann Winter, im Bergischen Land regnete es nach meinem Empfinden immer. Im Osten hatte ich scheinbar unbegrenzten Raum zum Leben gehabt. ImWesten umgrenzte Stacheldraht jedes noch so kleine FleckchenWiese. ImOsten hatte ich mich in meiner Erinnerung frei entfalten können, im Westen fühlte ich mich ge- gängelt durch katholische Bigotterie (die katholischen Kinder durften nicht mit den evan- gelischen turnen) und wohlanständige Frauengeschwader, die einen in der Kirche von Kopf bis Fuß mißbilligend musterten. Die allgemeine Feindseligkeit (»ihr Russenkinder«) sollten wir, so wurde uns gesagt, durch Wohlverhalten mildern. Verkehrte Welt, verkehrte Erinnerung? Die Ankunft in der Freiheit war nicht so, wie ich mir Freiheit vorstellte.
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