Katalog
Ich finde ein sehr kleines Schwarz-Weiß-Foto. Meine Familie beim Picknick. Es ist der Sommer 1957, meine Eltern und ich leben seit kurzer Zeit in Dresden. Alle sitzen wir auf einer karierten Decke mit Schottenmuster, aus dem Stoff der groß elterlichen Weberei in Glauchau über Crossen nach Dresden gewandert. 1989 fand ich diese Decke gut erhalten im Gartenhaus meiner Eltern wieder. Die stinkende Nachkriegs- Zellwolle war weder von Motten noch anderen kleinen Tierchen zum Verzehr auserkoren. Ich verwende diese Decke später für die Nachinszenierungen der Kindheitsfotos. 1957 diente sie den Personen auf dem Foto als Schutz vor Grasflecken. Die Decke ist wichtig, da meine Eltern, der Patenonkel und seine Frau elegant gekleidet sind. Die Zeit gilt immer noch als Nachkriegszeit. Die Menschen, auch die Protagonisten auf dem Foto, wollen wieder gut leben, vielleicht wie einst in den zwanziger Jahren. Die Männer tragen Schlips und Kragen, die Frauen Taft und Seide oder Georgette. Auf dem Foto geben sich die Herren leger, die Sommerhitze erlaubt ihnen, das Jackett auszuziehen. Eine große weiße Serviette ersetzt das Tafeltuch. Porzellantassen mit Goldrand samt Unter- tassen demonstrieren den neuen Wohlstand. Die Tante ist die Königin der Runde, meine Mutter richtet sich in der Kleidung ganz nach ihr. Auch sie läßt inzwischen bei der »Tide«, der Schneiderin für gut Betuchte, arbeiten. Stolz trägt Papa seine Ringe, goldene Ärmelhalter und die Krawatte. Er hat es ohne Hilfe der leiblichen Mutter geschafft, in der Gesellschaft nach oben zu kommen. Die Mutter gab früh ihr uneheliches Kind weg. Mein Vater wuchs in dem ärmlichen Haus einer Pflege mutter auf. Ich darf im Alter von sechs Jahren in meinem Unterröckchen dabei sitzen. Die Anmut eines siebenjährigen Mädchens macht das möglich. Ich bin zufrieden, ahne nichts von schiefen Zähnen, häßlichen Beinen und Krankheit. Ganz nah sitze ich bei meinem kinderlosen Onkel, der mich verwöhnt und herzt.
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