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20 1933–1945 vor Gericht Als das Reichsjustizministerium in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre das Amt des sächsischen Generalstaatsanwalts und des Dresdner Oberlan- desgerichtspräsidenten neu besetzen musste, 4 kamen mit Heinz Jung und Rudolf Beyer (1891– 1945), NSDAP-Mitglied seit 1932, dezidierte Natio- nalsozialisten in Spitzenpositionen. Richter wie Oberlandesgerichtsrat Dr. Richard Schulze ( a S. 22), die sich nicht der NSDAP an- schließen wollten, bekamen die Folgen zu spüren. Rudolf Beyer als sein Vorgesetzter lehnte eine Be- förderung wegen der fehlenden Parteizugehörig- keit ab. Der Dresdner Jurist Heinrich von Zeschau ( a S. 95) hingegen war um seines beruflichen Auf- stiegs willen bereit, die an ihn gestellten partei­ politischen Erwartungen zu erfüllen. Das Reichsjustizministerium nahm auf verschiede- nen Wegen Einfluss auf die Rechtsprechung, etwa durch Rundverfügungen an die Gerichte zur Straf- höhe bei bestimmten Verfahren, durch bindende Anweisungen an die Staatsanwaltschaften oder durch regelmäßige Besprechungen mit den Ober- landesgerichtspräsidenten und den Generalstaats- anwälten. Selbst rechtskräftige Urteile konnten seit September 1939 mithilfe des außerordentli- chen Einspruchs oder der im Februar 1940 einge- führten Nichtigkeitsbeschwerde revidiert werden. Der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht bzw. beim Volksgerichtshof konnte diesen Einspruch bei starken Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils erheben. Ein »besonderer Senat« bei jedem der beiden Gerichte entschied über den Einspruch. Nichtigkeitsbeschwerde konnte die Staatsanwalt- schaft gegen Urteile von Amts-, Land- und Sonder- gerichten innerhalb eines Jahres einlegen. Die Beschwerde diente ganz überwiegend der Straf- verschärfung bei angeblich zu milden Urteilen. Eine neue Qualität erreichte die Lenkung der Justiz nach der öffentlichen Kritik Adolf Hitlers in einer Reichstagsrede im April 1942 an der angeblich zu milden Rechtsprechung, die er mit der Drohung verband, Urteile aufzuheben und Richter zu entlas- sen. Unter Otto Thierack, dem neuen Reichsjustiz- minister seit August 1942, radikalisierte und poli- tisierte sich die Justiz weiter. Druck und Kontrolle auf die Justizjuristen nahmen zu. Der gebürtige Wurzener initiierte die Richterbriefe, die den Rich- tern Leitlinien für die Rechtsprechung gaben und letztlich die Urteile im Sinne des Regimes verein- heitlichen sollten. In die gleiche Richtung zielten die im Oktober 1942 reichsweit eingeführten »Ur- teilsvor- und Nachschauen«, in denen die Ober­ landesgerichtspräsidenten wichtige anstehende bzw. abgeschlossene Verfahren mit den Land- und Amtsgerichtspräsidenten und den Sondergerichts- vorsitzenden besprachen. Trotz des zunehmenden ministeriellen Drucks blie- ben dem einzelnen Richter bei der Strafzumessung Handlungsspielräume. Dazu trugen weit interpre- tierbare Gesetze und Verordnungen bei. Hinzu kam die an ihn gerichtete Erwartung, seine Urteilsfin- dung politisch zu begründen, also den Führerwil- len über das Gesetz zu stellen. Vielfach interpretier­ ten auch in Dresden wirkende Richter und Staats- anwälte ihren Ermessenspielraum zu Lasten der Angeklagten. Nach 1945 ging die deutsche Justiz in Ost undWest unterschiedlich mit der strafrechtlichen Verantwor- tung von Richtern und Staatsanwälten an national- sozialistischen Unrechtsurteilen um. Im Dresdner Juristenprozess ( a S. 287) erhielten selbst Richard Schulze ( a S. 22) oder Erich Anger ( a S. 290), die zwar an Unrechtsurteilen mitgewirkt, sich aber Skrupel bewahrt hatten, Zuchthausstrafen. Sie gal- ten als kollektiv mitverantwortlich an »Verbre- chen gegen die Menschlichkeit« ( a S. 284). Da­ gegen machte die bundesrepublikanische Justiz die strafrechtliche Verantwortung an einer sehr restriktiven Auslegung des Straftatbestands der Rechtsbeugung (§ 336 StGB) fest. Selbst wenn sie Urteile eines Richters objektiv für Justizverbrechen hielt, zog sie diesen nur dann zur Verantwortung, wenn er selbst zum Zeitpunkt der Entscheidungs- findung von der Rechtswidrigkeit seines Handelns überzeugt gewesen war. Das ließ sich nicht nach- weisen und führte dazu, dass NS-Juristen nicht bestraft wurden. Erst im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Richtern nach 1989/90 distan- zierte sich der Bundesgerichtshof 1995 von dieser Rechtsauffassung: Wären in der alten Bundesrepu- blik dieselben Kriterien zugrunde gelegt worden, hätten zahlreiche an Todesurteilen beteiligte NS-Richter wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen. 5 Quellen BArchB, Oberstes Parteigericht der NSDAP/Helbig, Felix (ehem. BDC) (Urteil Hohnsteinprozess) Namen des Deutschen Volkes (1989), S. 272–306, 353–388 Gruchmann (1990), S. 368–374 Manthe (2013), S. 31–56, 99–215 Oberndörfer (2008) Schädler (2009) Anmerkungen 4 Alfred Weber, seit Mai 1933 Generalstaatsanwalt, war ver- storben, OLG-Präsident Dr. Alfred Hüttner hatte die Alters- grenze erreicht. 5 BGH 5 StR 747/94 – Urteil v. 16.11.1995, HRRS-Datenbank, Rn. 86.

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