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215 vor Gericht Nach der Kapitulation der Wehrmacht übernahmen alliierte Militäradministrationen in den vier Besat- zungszonen die oberste Staatsgewalt. Sie setzten das politische, soziale und wirtschaftliche Leben wieder in Gang und überwachten dessen Entwick- lung. Zugleich organisierten sie die Entnazifizie- rung und die Reparationen. Für die östliche Besat- zungszone wurde am 9. Juni 1945 in Karlshorst bei Berlin die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) eingerichtet. Sie bestand bis 1955, seit 1949 unter demNamen Sowjetische Kon- trollkommission. Auch auf Länder- und Provinzialebene begannen sowjetische Administrationen zu wirken, in Dres- den die Sowjetische Militäradministration für Sachsen (SMAS). Im Rahmen der SMAD, aber di- rekt dem Moskauer Innenministerium unterstellt, arbeiteten die operativen Gruppen der Geheim- dienste NKWD (ab 1946 MWD) und NKGB (ab 1946 MGB) sowie die Spionageabwehr SMERSCH. In Berlin sowie in den Provinz- und Landeshauptstäd­ ten entstanden zentrale Untersuchungsgefäng- nisse, so in Dresden in der George-Bähr-Straße ( a S. 237). Auch in anderen größeren Städten un- terhielt die Besatzungsmacht Haftanstalten, in Leipzig auf der Moltkestraße und in Chemnitz auf dem Kaßberg. Politische sowie ideologische Prämissen und Ziele bestimmten – wie die gesamte Besatzungspolitik – auch die sowjetische Strafjustiz. Nicht nur die Justizstruktur und das sowjetische Strafrecht wur- den in den Osten Deutschlands exportiert, sondern auch die Funktion der Justiz als repressives Instru- ment des Stalinismus. Die Aburteilung von NS- und Kriegsverbrechen sowie Handlungen, die gegen Interessen der Be- satzungsmacht verstießen, übernahmen sowjeti- sche Militärtribunale (SMT). Diese waren zunächst den verschiedenen Truppenteilen der Roten Armee angegliedert. Anfang 1946 wurden die SMT dann den Militäradministrationen zugeordnet. Die Zen- trale befand sich in Berlin-Lichtenberg, hinzu ka­ men auf Länderebene SMT in Dresden, Weimar, Halle, Potsdam und Schwerin. Gerichtsverhand- lungen wurden aber auch in anderen Städten durchgeführt. Die Tribunale setzten sich aus einem vorsitzenden Militärrichter und zwei Beisitzern zu- sammen. Diese waren ebenfalls Militärangehörige, besaßen aber keine juristische Ausbildung. Die Prozesse fanden stets als »vereinfachtes Verfah- ren« nach sowjetischem Recht statt: Das Gericht übernahm die Anklage und die Verteidigung gleich mit. In einigen Fällen, wie bei der Operettensänge- rin Mara Jakisch ( a S. 259), sprach ein OSO 1 ge- nanntes Ferntribunal in Moskau das Urteil. Dies geschah meist, wenn nicht genügend Beweise zur Verfügung standen oder geheimdienstliche Infor- mationen geschützt werden mussten. Das Urteil wurde in diesen Fällen in Abwesenheit des Ange- klagten, allein nach Aktenlage gefällt. Die überlieferten sowjetischen Akten suggerieren ein rechtsförmiges Verfahren. Jeder Schritt wurde protokolliert und musste von den Angeklagten un- terschrieben werden. Sie spiegeln jedoch die Rea- lität in keiner Weise wider. Zu den zumeist katas­ trophalen Bedingungen in den Haftstätten der Be­ satzungsmacht ( a S. 237) kamen durchweg nachts durchgeführte Vernehmungen. Die durch »zumTeil bestialische« 2 physische und psychische Folterun- gen erlangten »Geständnisse« waren Grundlage für Anklage und Urteil. Sachliche Beweise, insbe- sondere solche zur Entlastung der Angeklagten, fanden keine Berücksichtigung. Nach Angaben russischer Stellen sind etwa 35 000 deutsche Zivilisten von SMT verurteilt worden. Etwa 30 000 Verurteilte sind namentlich bekannt, bei etwa 26 000 Fällen sind die Urteilsgründe ver- zeichnet. 3 GH Quellen Hilger, in: Frei (2006) K.-D. Müller, in: Weigelt/Müller/Schaarschmidt/ Schmeitzner (2015) Anmerkungen 1 Akronym aus den russischen Worten für Sonderberatung (Osoboe sovescščanie). 2 Hilger/Petrov, in: Hilger/ Schmeitzner/Schmidt (2003), S. 86. 1937 billigte das ZK der KPdSU gewaltsame Verneh- mungen, diese Erlaubnis wurde erst 1953 zurückgenommen. 3 Zahlenangaben nach: K.-D. Müller (2015), S. 21, 43 und 45.

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