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37 Weimar. Kontinuität und Neubeginn Das Erscheinungsbild des Altstadtkerns von Weimar scheint auf den ersten Blick überwiegend historisch zu sein. Dass die nördliche Marktplatzfront wie auch andere für die kulturelle Identität der Klassikerstadt bedeutende Baudenkmale den­ noch Wiederaufbauleistungen nach dem Zweiten Weltkrieg sind, bedarf eines genaueren Hinsehens. Sie zeugen von einem bestimmten Planen und Bauen inner­ halb der DDR, das nicht – wie in anderen kriegszerstörten Städten – Veränderun­ gen hinterließ, die den Prämissen des sozialistischen Städtebaus verpflichtet sind. Nahezu untypisch fehlen großmaßstäblich in den historischen Stadtgrundriss geplante Ensembles oder Repräsentationsbauten, flächendeckend industriell errichtete Wohngebiete oder für die Darstellung politischer Aktivitäten angelegte Magistralen. Vielmehr fügen sich die nach 1945 errichteten Bauten derart gut in den historischen Kontext ein, dass auch von einem »Sonderfall Weimar« 1 gespro­ chen werden kann. Die thüringische Kleinstadt an der Ilm war ab Juli 1940 Ziel von Luftangriffen der Alliierten. Der Angriff vom 9. Februar 1945 war mit etwa 460 Todesopfern jedoch der schwerste und hinterließ empfindliche Schäden in der Bausubstanz. Bürgerhäuser an der Nordseite des Marktplatzes wie auch das Stadthaus an seiner Ostseite waren schwer getroffen worden, der Frauenplan einschließlich des Goethehauses, das Schillerhaus, das Nationaltheater und die Stadtkirche wiesen starke Schäden auf. 2 Das Ausmaß der Kriegseinwirkungen, das mühsame Beräu­ men der Trümmer, auch die ersten Sicherungsarbeiten an beschädigter Bausubs­ tanz sind im Besonderen durch die Aufnahmen des Weimarer Fotografen Günther Beyer dokumentiert. Als diese jüngst in einer Ausstellung gezeigt wurden, wurden auch neuere Erkenntnisse zu den Luftangriffen veröffentlicht. Ihnen zufolge zielte das schwere Bombardement wenige Wochen vor Kriegsende nicht auf die Zerstö­ rung der berühmten Klassikerstätten, sondern der Gustloff-Werke. So seien Abwurf­ ungenauigkeiten auf den unmittelbar hinter dem Bahnhof gelegenen Werksteil für die Zerstörungen im Stadtkern und im Ilmpark verantwortlich. 3 Leopold Wiel gehört zu den Zweiflern an dieser These militärischer »Fehlwürfe«, zu genau waren die bedeutendsten Baudenkmale und Erinnerungsorte der Stadt getroffen worden, während andere Bereiche verschont geblieben waren. 4 Er selbst war Augenzeuge des Angriffs am 9. Februar 1945 geworden, als er für einige Tage Kriegsurlaub in Weimar weilte. Dabei war auch seine Wohnung in der X-Straße 5 beschädigt worden. Wenige Wochen später vollzogen amerikanische Streitkräfte das Kriegsende in Thüringen. Auf Beschluss der Alliierten übernahmen im Juli 1945 sowjetische Trup­ pen das Besatzungsregime. Unter der zuständigen Sowjetischen Militäradminis­ tration des föderalen Thüringens (SMATh) begann eine Entwicklung, die auf einen sozialistischen Umbau von Staat und Gesellschaft abzielte. Der damit verbundene Umbau der Thüringer Landesverwaltung wirkte sich natürlich auch direkt auf die Inhalte der Aufbaumaßnahmen der Städte aus. Am 18. Oktober 1945 erging das 1 Engelberg-Docˇkal/Vogel (Hg.), S. 6. 2 Siehe Bericht über den Luftan­ griff auf Weimar am 9. Februar 1945; StadtAW, Chronik der Stadt Weimar und Steiner, S. 9. 3 Siehe Stadtmuseum Weimar (Hg.), S. 3 f. 4 Wiel im Gespräch mit der Autorin am 21. Oktober 2015. 5 Die ehemalige X-Straße (heute Ferdinand-Freiligrath-Straße) befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem von Hermann Giesler als Partei- und Verwaltungszentrale kon­ zipierten »Gauforum«, dem größten Bauprojekt des Drit­ ten Reiches in Weimar.

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