Katalog
Sandra Petersmann Sowjetische Besatzungstruppen, afghanische Widerstandskämpfer, die vielen bewaffneten Gruppen des afghanischen Bürgerkriegs und die Taliban haben Minen gelegt. Unsichtbare Feinde, im Boden ver- graben. Hinzu kommen Tonnen von nicht explodierter Munition und Kriegsschrott. Die mörderische Hinterlassenschaft hat in den letzten zehn Jahren in den Dörfern rund um das aktuelle Einsatzgebiet der Minenräumer fast 400 Menschen getötet oder schwer verletzt. Fremde, neue Beine Menschen wie Khyali. Er ist elf Jahre alt, sein Körper ist schmächtig, seine Haut ist grau. Er hockt im Orthopädiezentrum des Internatio- nalen Roten Kreuzes in Kabul draußen im Sonnenschein auf einer Bank – erschöpft von den ersten Gehversuchen mit seinen neuen Plastikbeinen. Bis nach Hause sind es rund 60 Kilometer. Khyali trat vor drei Jahren beim Viehhüten auf eine Antipersonenmine – vermut- lich auf eine russische. Sein Zuhause liegt in dem Gebiet, das Ahmad Sha und seine Kollegen gerade räumen. Die Wucht der Explosion riss ihm beide Beine ab. Ein Knie konn- te gerettet werden. Sein Vater zuckt hilflos mit den Schultern. »Er war mit unseren beiden Kühen unterwegs, als es passierte. Ich war in seiner Nähe. Ich bin zu ihm gerannt, er lag in einer Blutlache, sei- ne Beine waren nicht mehr da. Was sollen wir tun? Wir leben hier, wir haben keine Wahl.« Landminen und nicht explodierter Kriegsschrott aus vier Jahr- zehnten Dauerkrieg töten oder verstümmeln in Afghanistan jeden Monat etwa 30 Menschen. Hinzu kommt die alltägliche Gewalt. Die täglichen Gefechte, die Selbstmordattentate, die Sprengstoffanschlä- ge, die Luftangriffe mit Kampfhubschraubern, Kampfjets und Kampf- drohnen. Für das Jahr 2015 dokumentierten die Vereinten Nationen mehr als 11000 getötete und verwundete Zivilisten: ein neuer Höchst- stand seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001. Es ist ein Wunder, dass Khyali den Tritt auf die Mine überlebt hat. Amerikanische Militärärzte auf dem benachbarten Luftwaffenstütz- punkt Bagram retteten ihm das Leben. Sein Vater ist dankbar, auch wenn er die Amerikaner nicht mag. »Erst die Russen, jetzt die Ame- rikaner, wann hört dieser verdammte Krieg endlich auf«, fragt er ver- zweifelt, während er die Laufübungen seines Sohnes verfolgt. Khyalis Prothesen sind aus Plastik, Gummi, Klettband, Leder und Metall. Sie fühlen sich noch fremd an. Ihr Ton ist der Hautfarbe des Jungen angepasst. Khyali braucht Krücken, um sein Gleichgewicht zu halten. Der ungewohnte Druck jagt ihm Schmerzwellen durch die Stümpfe, die von seinen alten Beinen übrig geblieben sind. Reden will er nicht. Er schaut scheu auf den Boden. Sein afghanischer Phy- siotherapeut, selbst ein Minenopfer mit Beinprothese, deutet auf einen jungen Mann mit Dreitagebart, der sich direkt neben ihm auf die Lippen beißt. Er heißt Ali, und auch ihm fehlen beide Beine. Ali ist 20. Er war Polizist bis ein Selbstmordattentäter der Taliban seinen Posten in der ostafghanischen Provinz Khost angriff. Er wach- te im Krankenhaus der afghanischen Armee in Kabul auf. »Ich wollte 50
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