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Weitergehen Von Kriegsopfern und Opfern des Krieges Alberto Cairo hat seinem Leben in den 1980er Jahren die entschei- dende Wende gegeben. Der studierte Jurist entschied sich, Physio- therapeut zu werden. Er wollte mit seinen Händen und mit Menschen arbeiten. Als er dann das Angebot vom IKRK bekam, nach Kabul zu gehen, zögerte er keine Sekunde, obwohl er eigentlich nichts über Afghanistan wusste. »Ich bin immer noch froh darüber, dass ich mal Jura studiert habe. Aber meine Arbeit als Physiotherapeut macht mir mehr Spaß. Ich bin angekommen«, erklärt Alberto. Seine Augen glei- ten über die vielen Akten, die sich in seinem Büro in den Wandregalen quetschen. Patientenakten. Prothesenakten. Jeder Patient bekommt eine maßgeschneiderte Prothese. Der Körper wird genau vermessen. Jede Prothese beginnt mit einem Rohling aus Gips. »Jemanden körperlich zu rehabilitieren, ist in Europa inzwischen Hochtechnologie. Hier müssen wir uns oft mit ganz einfachen Mitteln helfen. Zu uns kommen Menschen, die körperlich und seelisch auf dem Boden kriechen. Nach ein paar Wochen bei uns können sie wieder mit mehr Würde nach Hause gehen. Das ist eine so lohnende und wunderschöne Arbeit. Hier kannst du unmittelbar sehen und fühlen, wie nützlich du bist.« In den Anfangsjahren waren fast alle Patienten des Orthopädie- zentrums in Kabul Minen- oder Gefechtsopfer. Alberto Cairo hat 1995 dafür gesorgt, dass sich das orthopädische Programm des IKRK in Afghanistan öffnet, »weil alle Afghanen Opfer des Krieges sind.« Seitdem behandelt das Zentrum auch Menschen mit einer angeborenen Behinderung wie Klumpfüße. Menschen, die an Kinder­ lähmung leiden. Menschen mit einer Querschnittslähmung, für die es im kriegsgeschundenen Afghanistan kaum professionelle Hilfe gibt. »Manchmal standen schon am frühen Morgen 50 Patienten vor der Tür. Davon 15 Minenopfer. ›Herzlich willkommen, kommt rein.‹ Die anderen hatten andere Behinderungen und mussten draußen bleiben. Und die haben uns dann irgendwann gefragt: ›Was ist der Unterschied zwischen denen und uns?‹ Wir können alle nicht laufen«, erinnert sich Cairo. Karishma hat ihr linkes Bein vor drei Monaten durch einen Auto- unfall verloren. Bei einer schnelleren Versorgung in einem guten Ge- sundheitssystem hätten die Ärzte vermutlich nicht kurz unterhalb der Leiste amputiert. »Am Anfang war es schwer, und ich habe nur ge- weint«, erzählt die Elfjährige und guckt auf ihre Prothese. »Ich bin un- sicher, weil es kein echtes Bein ist. Ich kann jetzt wieder ein bisschen laufen. Aber ich kann noch nicht frei stehen und nicht normal sitzen.« Seit dem Unfall dürfen sie und ihre ältere Schwester nicht mehr zur Schule gehen. »Ich vermisse die Schule sehr«, sagt Karishma. 53

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