Katalog
Sandra Petersmann »Wir kopieren alles« Alberto Cairo führt durch die IKRK-Werkstätten des Zentrums in Kabul. An einer Werkbank steht ein blinder Techniker, der Muttern und Schrauben für die Gelenke der Beinprothesen herstellt. Jeder Handgriff sitzt. Im Raum nebenan schneidet eine junge Frau im Roll- stuhl einen kleinen Plastik-Stützfuß zurecht. Der studierte Jurist im weißen Arztkittel pfeift auf Dogmen und Verträge. »Wenn ich nach Europa reise, dann kaufe ich immer alle mögli- chen neuen Modelle ein. Prothesen, Orthesen, Korsette, Bandagen«, erklärt er augenzwinkernd: »Wir kopieren hier alles, ohne Rücksicht auf Lizenzen und Urheberrechte. Das sollte ich als Anwalt natürlich nicht machen, aber ich mache das mit großer Freude.« Er zeigt auf ein Modell. »Dieses Korsett stabilisiert die Wirbelsäule. Es kostet in Europa um die 80 Euro. Unsere Kopie kostet nur knapp sieben Euro. Wir können damit so vielen Menschen helfen, und wir geben den Afghanen Arbeit. Das Kopieren hat für uns so viele Vorteile, es tut mir leid, hier ist kein Platz für Lizenzen.« Das IKRK stellt in seinen orthopädischen Werkstätten in Afgha- nistan nur Mitarbeiter ein, die selbst behindert sind. Auch die meisten Physiotherapeuten, Krankenpfleger und Krankenschwestern sind behindert. Alberto Cairo nennt das »positive Diskriminierung«. »Wir versuchen, den Menschen dabei zu helfen, eine neue Rolle in der Gesellschaft zu finden. Es geht um Würde. Es reicht nicht, sich nur um die körperliche Rehabilitierung eines Patienten zu kümmern. Das ist wie ein Stuhl mit drei Beinen. Da fehlt einfach was.« Eigenproduktion 95 Prozent aller künstlichen Arme und Beine, die das IKRK für afgha- nische Patienten anfertigt, werden direkt vor Ort mit lokalen Materi- alen produziert. Das schafft Arbeitsplätze und ist gut für den lokalen Markt. Nur die robusten Gummifüße und der thermoplastische Kunst- stoff Polypropylen für das Prothesengehäuse werden importiert, weil sie in der gleichen Qualität nicht in Afghanistan hergestellt werden können. Alle sieben IKRK-Orthopädiezentren in Afghanistan haben eigene Werkstätten, im größten in Kabul begann die Eigenproduktion mit dem ersten Tag. Gefertigt wurde zunächst nach dem Vorbild der Prothesen und Orthesen, die das IKRK durch seine Arbeit mit Kriegs- versehrten in anderen Kriegsgebieten entwickelt hatte. Spezielle Einzelteile wie Kniegelenke kamen zunächst aus Europa, bis sie direkt vor Ort hergestellt werden konnten. Später kamen dann auch eigene, afghanische Entwicklungen dazu, die wiederum in andere Landes- programme einfließen konnten. Wichtig ist, dass die Prothese mög- lichst leicht, möglichst anspruchslos und möglichst robust ist. Schon eine Schraube kann einen großen Unterschied machen. Nicht alle orthopädischen Zentren des IKRK arbeiten so autark wie die in Afghanistan. Für andere Landesprogramme werden bis heute Einzelteile in Europa produziert, die dann in den Zielgebieten zusammengebaut und angepasst werden. 54
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