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Weitergehen »Es ist jetzt dein Bein« Latifa kommt seit 15 Jahren regelmäßig in das Zentrum nach Kabul. Auch sie ist auf eine Mine getreten. Die 30-jährige Mutter von drei Kindern lebt in einem kleinen Bergdorf außerhalb der Hauptstadt. Sie muss Wasser heranschleppen, Feuerholz sammeln und kochen. Ihre Wege sind steil, der Verschleiß ihrer Prothese ist entsprechend hoch. Mal muss eine Schraube nachgezogen werden, mal muss der Gummi­ fuß ersetzt werden, mal hat sie sich ihren Stumpf wundgescheuert, mal muss die ganze Prothese ausgetauscht werden. Ihr Ehemann ist drogensüchtig, von ihm hat sie keine Hilfe zu erwarten. Das IKRK betreut sie kostenlos. Das Zentrum in Kabul bietet auch psycholo- gische Hilfe. Es gibt ein eigenes Sozialprogramm, das Mikrokredite vergibt – zum Beispiel, um das Zuhause behindertengerecht umzu- bauen. Der Weg in die Stadt ist für Latifa jedes Mal beschwerlich. Ein langer Fußmarsch bergab, später bergauf. Eine Bus- oder Taxifahrt. Der Einstieg in ein Fahrzeug mit einer Prothese. Die Blicke der an- deren. Der Gang durch eine verbarrikadierte Stadt mit Sprengschutz- mauern und Stacheldraht, die nicht barrierefrei und nicht sicher ist. Die schleichende Angst vor einem Anschlag. Die Gewissheit, nicht wegrennen zu können. Die erfahrene Latifa erklärt der kleinen Karishma, dass es auch bei ihr ein paar Wochen gedauert hat, bis sie mit ihrem neuen, fremden Bein laufen konnte. »Es wird nie wie dein altes Bein sein, aber es ist jetzt dein Bein«, erklärt Latifa. »Mein Leben ist nicht gut«, sagt sie später, als Karishma einen neuen Anlauf zwischen den Laufstangen wagt. »Aber ohne meine Prothese wäre es gar kein Leben.« Alberto Cairo leitet das Orthopädieprogramm des Internationalen Komi- tees vom Roten Kreuz in Afghanistan. Das Zentrum in Kabul hat seit 1988 fast 70000 Patienten betreut. 55

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