Katalog
Diese Prothese erinnert nur entfernt an einen Arm. Sie besteht aus zwei Lederhülsen, die seitlich mit Aluminiumverstrebungen verse- hen und durch ein Gelenk verbunden sind. Eine der beiden Hülsen wird durch zwei Rie- men zusammengehalten und auf diese Weise am Oberarm fixiert. Die andere, konisch zu- laufende, ist an einem Ende offen: Sie nimmt den Unterarmstumpf auf. Am anderen Ende, wo die Hand wäre, mündet sie in ein Eisen- gewinde, in dem ein metallener Ring steckt, der die technische Anmutung des Stückes verstärkt. Er kann durch einen Haken aus gewechselt werden. Das Leder trägt eine Prägung: einen Namen und die Zahl 47. Sie verweisen auf den Besitzer der Prothese und das Jahr, in dem er sie erhielt. Ring und Haken sind zerkratzt, das Leder ist fleckig und be- rieben, das Schaftende, an dem der Ring steckt, mit Heftpflasterstreifen beklebt, ver- mutlich, um die Kleidung vor Beschädigungen durch das harte Material zu schützen. Die Armprothese war ihrem Träger zu Diensten gewesen, und wo sie nicht passte, hatte er sie passend gemacht. R. war auf einem Bauernhof im Rheinland aufgewachsen, wollte Landwirtschaftslehrer werden und hatte bereits Studium und Refe- rendariat absolviert, bevor er als Infanterie- offizier zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Am 29. Oktober 1941 wurde er in der Nähe von Moskau schwer verwundet. Eine Ampu- tation des Unterarms war erforderlich, doch bis zu ihrer Durchführung verging fast ein ganzer Monat, den R. auf einer strapaziösen Reise zubrachte. Zunächst wurde er mit einem Lastwagen zur Krankensammelstelle Smo- lensk transportiert, die er am 20. November 1941 erreichte. Vier Tage später fuhr er im Lazarettzug nach Warschau. Nachdem er dort am 27. November 1941 eingetroffen war, erfolgte die Amputation, die komplikationslos verlief. Anschließend wurde der Verletzte in ein Lazarett der Diakonissenanstalt Kaisers- werth verlegt, in dem er genas. 1 R. war einer von vielen Tausend versehrten Männern, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD lebten. Mehr als 47000 von ihnen hatten wie er im Ersten oder Zweiten Welt- krieg einen Arm verloren. 2 Die große Zahl von Kriegsversehrten unter den Personen, die eine Prothese trugen, spiegelt sich auch in der Sammlung des Museums wider: Von den nahezu 200 Kunstgliedern in seinem Bestand hatten 89 der Versorgung von Personen ge- dient, die im Krieg – insbesondere im Zweiten Weltkrieg – eine Amputation erlitten hatten . Der Koffer, S. 78 Ohne Hände, S. 82 Wiedergutmachung?, S. 86 Eigenwillig, S. 90 In den ersten Nachkriegsdekaden war es Ziel westdeutscher Behindertenpolitik, die Kriegsversehrten in den Arbeitsmarkt zu inte- grieren. Die Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln und Rentenleistungen für Kriegs- beschädigte waren staatlich gesichert. Wie die Prägungen in R.s Arbeitsprothese zeigen, war auch sie von einem Versorgungsamt zur Verfügung gestellt worden. R. bezog, so zeigt ein Dokument aus der Sammlung, ebenfalls eine Rente. 3 Angeboten wurden auch Reha- bilitationsmaßnahmen wie medizinische Nachsorge und berufliche Umschulungen. So sollten Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt gebracht und die Ausgaben für Sozialleistungen gering gehalten werden. 4 75
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