Katalog

imitiert. Diese Arten des Greifens und Zufas- sens waren vielfältig einsetzbar. 8 Mit ihnen ließen sich etwa diverse Gegenstände halten oder führen. Die Prothesenansätze waren Universalwerkzeuge. Angesichts der hohen Zahl an Versehrten, die nach dem Krieg für ihren Lebensunterhalt sorgen mussten, war die Fertigung solcher Prothesenansätze ein lukratives Geschäft. Gravuren auf den Ansatzstücken der Prothe- se von R. verweisen auf den Hersteller Ge- brüder Martin. Diese Firma war eigentlich auf die Produktion chirurgischer Instrumente spezialisiert. In der Fertigung von Prothesen- teilen erkannte sie während der Nachkriegs- zeit offenbar eine Marktlücke. 9 Dass R. noch eine andere Art von Prothe- se nutzte, beweist ein anderes Dokument: das Hochzeitsfoto. Es zeigt R., uniformiert und dekoriert, an der Seite seiner lächelnden Ehefrau. 10 Aus seinem linken Ärmel lugt nicht etwa die Funktionsprothese hervor, sondern ein dunkler Handschuh, eine sogenannte Kosmetikprothese. Seine Tochter erinnert sich, dass er eine solche Prothese, auch »Schmuckarm« genannt, im Schuldienst und in der Freizeit trug. Das Museum besitzt R.s letzten Schmuckarm, den er von 1974 bis 2001 verwendete.   Abb. 16 Kosmetikprothesen sollen den versehrten Körper optisch ergänzen, für die Verrichtung schwerer Arbeiten sind sie nicht geeignet. Offenbar hegte R. den Wunsch, die Amputa- tion zu verdecken und keine Irritationen aus- zulösen. Im Alltag der Nachkriegszeit waren Menschen, denen Glieder amputiert worden waren, zwar allgegenwärtig. Doch je länger der Krieg zurücklag, umso befremdlicher mag der Anblick der Versehrten, insbesonde- re auf die nachwachsenden Generationen, die die Kriegszeit nicht bewusst erlebt hatten, gewirkt haben. Indem Prothesen die Eingliederung in die Arbeitswelt erleichterten, ermöglichten sie ihren Trägern, die Rolle des männlichen Al- leinernährers einzunehmen, die in den ersten bundesrepublikanischen Dekaden privilegiert wurde. 11 Auch R. und seine Frau lebten in einem entsprechenden Familienmodell: Wäh- rend er durch außerhäuslichen Erwerb das Familieneinkommen sicherte, war sie für die Hausarbeit zuständig. Im Alltag war R. aber oft auf ihre Hilfe angewiesen. So musste sie ihm beispielsweise Brote schmieren. 12 Das mag banal erscheinen, verweist aber auf ei- nen zentralen Punkt: Mit Prothesen leben heißt, Allianzen zu schmieden, sei es mit Menschen, sei es mit Dingen. Und was wurde aus jener Prothese, die er 1947 erhalten und offenbar ebenfalls intensiv genutzt hatte? R. trug sie nur bei der Garten- arbeit. In den entbehrungsreichen Nachkriegs­ jahren mag diese Arbeit als Subsistenzwirt­ schaft dazu beigetragen haben, die Ernährung der Familie zu sichern. Nachdem sie 1953 in ein Haus gezogen war, das nicht über ein Gartengrundstück verfügte, war die Funk­ tionsprothese für R. nicht mehr von Nutzen. 13 1 Telefonat vom 17.2.2015 mit R.s Tochter, die Auskunft über ihren Vater und seinen Gebrauch der Prothese gab. 2 Vgl. Christine Wolters 2014: Kriegsversehrte nach 1945. In: Marion Maria Ruisinger (Hg.): Die Hand des Hutmachers. Ingolstadt, 8–13, hier 8. 3 Vgl. Dokument vom 20.1.1952 über die Feststellung von Beschädigtenbezügen, Inv.-Nr. 2003/641.3. 4 Vgl. Walter Fandrey 1990: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozial­ geschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stutt- gart, 197–203. 5 Dokument vom 14.1.1943 betreffs Entlassung aus dem Wehrdienst, Inv.-Nr. 2003/641.1. 6 Telefonat mit R.s Tochter vom 17.2.2015. 7 Vgl. Simon Bihr 2013: »Entkrüppelung der Krüppel«. Der Siemens-Schuckert-Arbeitsarm und die Kriegsinvalidenfür- sorge in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21 (2013), Nr. 2, 107–141. 8 Vgl. Galina Rostowzew-Atanassowa 1968: Nachuntersu- chung von 100 Armamputierten unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchs einer Prothese. Diss., Dresden, 16f. 9 Vgl. KLS Group: Unternehmensgeschichte. www.klsmartin. com/company/history/?L=2robots.txt [15.4.2015]. 10 In der Museumssammlung befindet sich eine Kopie des Hochzeitsfotos. 11 Vgl. Robert G. Moeller 1993: Protecting Motherhood. Women and the Family in the Politics of Postwar West Germany. Berkley (Calif.). 12 Telefonat mit R.s Tochter vom 17.2.2015. 13 Telefonat mit R.s Tochter vom 17.2.2015. 77

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