Katalog

Kyllikki Zacharias 12 Nutzten die Dadaisten den durch Duchamps Erfindung des Ready-mades neu hinzugewonnen Kunstraum für politische oder poetische Aussagen, so wiesen die Surrealisten ihn erstmals dem Bereich des Psychischen zu. Getreu ihrem Lieblingsmotto von Lautréamont: »schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Sezier- tisch« ( Die Gesänge des Maldoror, 1874) kombinierten sie in ihren Werken scheinbar will- kürlich zusammengetragene Gegenstände. Im Einzelnen meist gut zu erkennen, ergab sich erst durch die Disparatheit der Zusammenstellung ein verunsichernder Entfremdungseffekt, der für die Wahrnehmung einer anderen, unbewussten oder psychischen Realität sensibili- sierte. Mit seinem erotisch aufgeladenen Skatologischen Objekt mit symbolischer Funktion von 1931 hat Salvador Dalí diese Strategie auf eine tabuumwitterte Spitze getrieben: Ein signal- roter Damenschuh und ein Stück Würfelzucker, ein Glas Milch und ein galgenartiger Mechanismus laden dazu ein, einen mit Schuldgefühlen belasteten Geschlechtsakt zu asso- ziieren. Nur wenn das labile Gleichgewicht des oberen Balkens gestört wird, könnte das einen süßen Genuss verheißende Zuckerstück in das im Schuh neben Exkrementen stehende Glas getunkt werden, dessen milchiger Inhalt an Samenflüssigkeit erinnert. Welch einen Affront derartige Kunstwerke, die paradoxerweise nur mit ganz »normalen«, vorgefertigten Dingen operieren, für das geläufige Verständnis von Realität bedeuteten, war den Surrealisten durchaus bewusst. 1924 bemerkt André Breton in seinem ersten Manifest des Surrealismus : »Dagegen erscheint mir die realistische Haltung, seit Thomas von Aquin bis zu Anatole France vom Positivismus inspiriert, als jedem intellektuellen und moralischen Aufschwung absolut feindlich. Sie ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit ge- macht, aus Hass und platter Selbstgefälligkeit. Aus ihr resultieren heute diese lächerlichen Bücher, diese beleidigenden Theaterstücke. Ständig holt sie sich Rückhalt in der Tagespresse und bringt Wissenschaft und Kunst in Verlegenheit, indem sie sich bemüht, dem niedrigsten Geschmack der allgemeinen Meinung zu schmeicheln: an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. Noch imWirken der besten Köpfe macht sie sich bemerkbar; das Gesetz der geringsten Anstrengung drängt sich ihnen am Ende auf wie allen anderen auch. Eine belustigende Folge dieses Tatbestands ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen. Jeder steuert da seine kleine ›Beobachtung‹ bei. [...] Die einzige Entscheidungs- freiheit, die mir noch bleibt, ist die, das Buch zu schließen.« 7 Die Realität bekämpfen – das ließ sich auch mit einem anderen, erstaunlich »sachlichen« bildnerischen Mittel: der Fotografie. So bebilderte Breton die Schilderung seiner geheimnis- voll-erotischen Begegnungen mit einer jungen Frau am Rande des Wahnsinns ( Nadja, 1928) unter anderem mit einer Reihe gänzlich harmlos wirkender Aufnahmen. Breton hatte sie eigens von einem befreundeten Fotografen anfertigen lassen. Auf den ersten Blick scheint keine von ihnen etwas Besonderes darzustellen. Man könnte meinen, sie seien das beiläufige Werk eines Pariser Amateurfotografen: Abziehbilder dessen, was er hier und da zufällig gese- hen hatte, ohne näher darauf zu achten, was es eigentlich darstellt. Erst durch das Lesen der Erzählung, in die diese Fotografien eingestreut sind, weicht die anfängliche Ratlosigkeit. Nicht, weil wir erkennen würden, dass sie den Text illustrieren oder umgekehrt von ihm kommentiert werden, sondern gerade, weil wir nun spüren, dass sie in einer sonderbaren Spannung zu ihm stehen. Es sind Fotografien, die so gut wie nichts verraten, doch irgendetwas ahnen lassen: Die menschenleeren Straßen und Plätze der Fotografien, so will uns scheinen, Pablo Picasso Der Kranich  · 1952 Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Museum Berggruen Salvador Dalí Skatologisches Objekt mit symbolischer Funktion (Galas Schuh)  · 1931 Paris, Centre Pompidou- CNAC-MNAM

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1