Katalog

24 Hartmut Böhme Das Reale ist das Surreale – und umgekehrt Das Unheimliche im Vertrauten Gerade die lakonische Sachlichkeit des Erzählstils von Franz Kafka ist es, welche die unheim- lichen, surrealen, gelegentlich grotesken und oft gewitzten Effekte hervorbringt. Das ist für die künstlerische Moderne symptomatisch. Die Kunstwerke der Ausstellung mit dem schein- baren Oxymoron im Titel Surreale Sachlichkeit sind eine großartige Bestätigung dieser Beob- achtung. Neue Sachlichkeit und Surrealismus müssen nicht, aber sie können sich begegnen, interagieren oder gar fusionieren. Es mag prima facie verwundern, dass der Fotograf, der als der große Dokumentarist von Paris, der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Walter Benjamin) gilt, nämlich Eugène Atget, von den Surrealisten zum Idol erhoben und von Benjamin zu ihrem Vorläufer erklärt wurde. Scheint doch der Realismus der Atget’schen Paris-Fotos nicht weiter getrieben werden zu können. Die meist menschenleeren Straßen, die Plakatwände, die düsteren Hinterhöfe, die schmutzigen Fassaden ehemals glanzvoller Architekturen, die verwirrenden Geometrien der Metropole, die verloren scheinenden Gassen, die reflektierende Nässe des Kopfsteinpflasters, die abweisenden leeren Fenster, die verlassenen Gefährte und Geräte auf den Straßen, die spiegelnden Schaufensterscheiben, in denen sich die Auslagen mit dem Bild der Straße und der gegenüberliegenden Häuser vermischen (kein Wunder, dass sich André Breton von Marcel Duchamp in einer solchen real-surrealen Schaufenster-Konstellation fotografieren ließ 1 ): All diese urbanen Räume der ersten Moderne werden zu Stätten einer ebenso leisen wie bedrängenden Unheimlichkeit und Leere, einer überwirklichen Wirklichkeit. Immer suggerieren Fotografien, dass, wie Benjamin schrieb, »die Wirklichkeit den Bildcharakter

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