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Hartmut Böhme 26 Surrealismus begegneten sich in den Fotografien Brassaïs auf paradigmatische Weise. Tatsäch- lich muten die Ritz-Bilder ebenso archaisch wie kindlich an, ebenso modern wie primitiv, ebenso fazial wie maskenhaft. Sind es nicht auch Gesichter der Nacht, des Unbewussten, des Traums, der Fantasie? Gesichter gehören, neben Tieren und Pflanzen, zu den Urformen der Kunst. Und sie beschäftigen uns ohne Unterlass: Denn kaum etwas ist für Menschen so überlebenswichtig wie die Gesichtserkennung. Die Ubiquität von Gesichtern belegt ihre unübertreffliche Bedeutung für alle Lebensalter, alle Kulturen, alle Medien. Das Graffiti wurde gewiss erst von Brassaï mit Der Sonnenkönig betitelt, als sei es ein steinernes Porträt Ludwigs XIV.: Kollision des Erhabenen mit dem Trivialen – von Kinderhand geritzt. Doch hat diese Assoziation ihren Anhalt im Strahlenkranz, der vom Gesicht ausgeht und seinen Nimbus bildet: Zeichen einer Licht-Erhabenheit, wie man sie auch an Wandbildern der Echnaton-Zeit findet. Die Zigarre im Mund ist ein karikaturesker Witz, wie er als Gegen- zauber zum Erhabenen oder Unheimlichen gerade in der Volkskunst gern praktiziert wird. Die Kratzspuren – Urformen der Grafie als Kerbung – verweisen auch auf die lange Zeit der Herstellung des anonymen Bildwerks. Die Licht- und Schattenwirkungen der schräg von oben einfallenden Sonnenstrahlen werden von Brassaï meisterhaft genutzt, um den Charak- Brassaï (Gyula Halász) Der Sonnenkönig aus der Serie Archaische Bilder , Porte-de-Saint-Ouen · 1952

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