Katalog
Das Reale ist das Surreale – und umgekehrt 27 ter als Bas-Relief herauszuarbeiten. Nicht zuletzt sind Ritzungen auf Mauern immer auch Akte der Zerstörung der Oberfläche. Man denke an die Schnitte in die Leinwand der Gemälde von Lucio Fontana. »Kreative Zerstörung« ist nach dem Ökonomen Joseph A. Schumpeter eine Strukturdynamik des modernen Kapitalismus und des Unternehmertums, aber auch, so er- kennt man, der Kunst. Die angesprochene befremdliche Menschenleere auf Atgets Fotos lässt die Dinge in ihrem stimmungslosen Für-Sich, einer fast schon posthistorischen Nacktheit hervortreten: »Diese Leistungen sind es«, so schreibt Benjamin, »in denen die surrealistische Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschulten Blick das Feld frei, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung des Details fallen.« 4 August Sander hingegen räumt den Menschen wieder einen Auftritt in den Bildern ein, aber nicht im Modus des traditionellen Porträts, sondern mittels einer vergleichenden Sozialana- lyse. Der Betrachter wird durch alle Schichten und Berufsarten der Gesellschaft geführt. Das Foto Witwer, Westerwald (Abb. S. 188) von 1914 zeigt den klein geratenen, bürgerlichen Vater mit seinen Söhnen so, dass dem Betrachter angst und bange wird um die dünnleibigen Söhne, die der Vater, sie umfassend, einem autoritären Regime unterwirft, während sie aus- druckslos oder ängstlich in die Kamera blicken. Dass sie womöglich am Ende des Ersten Weltkriegs noch eingezogen werden, ist nicht unwahrscheinlich. Wir befinden uns mitten in jenem historischen Milieu, das Michael Haneke in seinem Film Das weiße Band (2009) so bedrückend geschildert hat, genau im Jahr, in dem Sander sein Foto aufnahm. Für Benjamin stellt Sander einen sozialanalytischen »Übungsatlas« zur Verfügung. Seine Fotos trainieren die physiognomische Auffassungsgabe, die in der modernen Welt unabdingbar sei. Den Fo- tografien von Atget und Sander gegenüber ist die Haltung der freischwebenden Kontempla- tion, wie sie für die Erfahrung der Aura günstig ist, nicht mehr angemessen. Sie fordern einen detektierenden Blick, der die Zeichen der gesellschaftlichen Fassaden und Abseiten der Mo- derne zu lesen weiß. 5 Die Fotografie Essen-Bergeborbeck (1929; Abb. S. 110) von Albert Renger-Patzsch ist ein Beispiel für die Ästhetik der Menschenlosigkeit, wie sie auch bei Eugène Atget oft gewählt wird. Sie ist auch ein Beispiel für die Ununterscheidbarkeit von neusachlichen und surrealen Effekten. Die nass-glänzende Asphaltstraße nimmt im Vordergrund die ganze Bildbreite in Anspruch, ganz im Kontrast zu ihrer absoluten Leere. Während der Blick über sie und den hochliegenden Horizont hin auf die drei Fabrikschornsteine zuläuft, nimmt die Straße einen Schwung nach rechts und verliert sich aus dem Bild. Nebel und Dunst über den leeren Feldern. Die Ortschaft Bergeborbeck und die Bergbauanlage werden zu flachen Schemen, ohne Zeichen von Leben. Atmosphärische Trostlosigkeit liegt über allem. Durch die Absenz aller Lebewesen wird die soziale Ödnis radikalisiert. In gewisser Hinsicht werden die agrikulturellen und in- dustriellen Zeichen abstrakt, eher grafisch organisiert denn kenntlich als sozialer Raum und seine Nutzung durch Menschen. Waldemar George prägte für derartige Interferenzen zwischen den Kunststilen der Zwischenkriegszeit den Ausdruck »sur-naturalistisch«. 6 Damit ist nicht jedes Werk, auch nicht jede Fotografie von Renger-Patzsch charakterisierbar. So zeigt das Foto Landschaft bei Essen/Mülheim-Ruhr (1928; Abb. S. 112) eine ästhetisch komponierte wie auch dokumentarische Gestaltung, während seine Blumenaufnahmen ( Catasetum tridentatum , Albert Renger-Patzsch Catasetum tridentatum. Orchidaceae · 1922/23 (vgl. Abb. S. 142)
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