Katalog

Das Reale ist das Surreale – und umgekehrt 29 kommen nicht die Ordnung der Haussmann’schen Stadtarchitektur, nicht die Transparenz von Eisen und Glas, nicht das Regime der Klassengesellschaft, sondern die Zeichen des Bösen und des Unheils, die Fratzen der Nacht, die wilden Schwärme des Unbewussten, die über den Palästen der Macht ihr Unwesen treiben. Unverwandt blecken die Basilisken, die das Leben der Stadt und ihrer Bewohner erstarren, ja, versteinern lassen. Schon hier also bei Meryon (aber auch etwa bei Felicien Rops) finden wir die eigentümliche Fusion von Surrealität und Realismus, wie sie für die Zwischenkriegszeit charakteristisch ist. In der Ausstellung kann man dies zum Beispiel in dem Gemälde Vorstadtstraße (1928; Abb. S. 109) des Berliner Malers und Essayisten Werner Heldt beobachten, dessen Stadtlandschaf- ten sehr oft menschenleer sind, was die trostlose Atmosphäre noch unterstützt. Die Kneipe im Vordergrund signalisiert Geselligkeit und wirkt doch so verloren wie die leere Straßen- mündung, deren Beschilderung an einer Laterne so vergeblich erscheint wie die Werbeschil- der der Kneipe. Die Grünzone im Mittelgrund wirkt so wenig einladend wie im Hintergrund die Kirche mit Turm, von der keinerlei Trost ausgeht. Vielmehr scheint sie von derselben lastenden Depression erfasst zu sein wie alles andere. Die Realität der Vorstadt-Ödnis schlägt in eine amorphe metaphysische Verdunkelung um. Dies ist der Ort, der auf die Ermordung des Protagonisten am Ende des Romans Der Proceß von Kafka vorbereitet ist: eine grundlose Hinrichtung auf einer öden Vorstadtstraße. 8 Realität und Surrealität begegnen sich auch im Selbstbildnis (1942; Abb. S. 154) von Hans Bellmer. Aus einer Abbruchkante, bei der man an geologische Strata denken darf, in die muschelartige Formgebilde wie Spolien eingefügt sind, löst sich das realistisch anmutende Gesicht des Künstlers. Schaut man näher hin, so scheint es nicht aus Fleisch, sondern aus sand- oder kalksteinartigem Erdmaterial gebildet zu sein. Diesem Werk folgt etwas später in der bei Surrealisten beliebten Abklatschtechnik Ohne Titel [Nora] (1948) 9 : Aus den zufälligen Oberflächenstrukturen eines rätselhaften Schwamm-Gebildes emanieren überall Gesichter, die sich indes nicht zu selbstständigen Gestalten verkörpern. Bei all diesen Künstlern mischen sich Physiognomisches und Biologisches, Organisches und Anorganisches, Abbildliches und Fantastisches, Natürliches und Künstliches, Archaisches und Gegenwärtiges. Eine Zuordnung zu den klassischen Gattungen ist so wenig möglich wie zu den modernen Kunststilen. Dinge – »von schlauer Verborgenheit« Durchaus sind solche Kontrasteffekte nicht eine Erfindung erst der modernen Künste. Ruft man sich etwa die Kunst des Stillebens, besonders des Trompe l’Œil, vor Augen, so fällt auf, dass bemerkenswert viele Gemälde der Ausstellung darauf Bezug nehmen. 10 Es war gerade der Naturalismus oder Verismus als die strikteste Form von Naturnachahmung, der schon in den alten Gemälden eine eigentümliche Atmosphäre von beängstigender Fremdheit und Unheimlichkeit hervorbrachte. Man denke nur an die hypernaturalistischen und eben dadurch auch unheimlichen Mikrografien von Georg, Jacob und Joris Hofnaegel, Conrad Gesner, Francesco Redi, Ulisse Aldrovandi und Thomas Moufet oder Jan van Kessel: Die

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