Katalog

Surreale Sachlichkeit 9 Max Ernst Capricorne · 1948/1964 (vgl. Abb. S. 183) Oskar Schlemmer Akt, Frau und Kommender 1925 (vgl. Abb. S. 180) Der Surrealist Max Ernst hat diese Skulptur 1948 vor seinem Haus in Arizona geschaffen und ihr denselben Namen verliehen, den auch der Hügel, auf dem sie stand, trug: Capricorne . Mit einer Maurerkelle, Zement und den verschiedensten Fundstücken, die er in seiner Umgebung entdeckte – der Stab des Zepters besteht aus aufeinandergetürmten Milchflaschen, sein Kopf aus einem Eierkarton, die Hörner des Ziegenbocks und der Leib der Fischfrau aus Autofedern −, verlieh er seinen traumhaften Fantasien die Macht des Faktischen. Einerseits. Andererseits: Akt, Frau und Kommender. Das Gemälde des neusachlichen Bauhaus- Lehrers Oskar Schlemmer von 1925 zeigt die Seitenansicht eines männlichen Aktes, der eher einem gedrechselten Stuhlbein als einem menschlichen Körper ähnelt. Die Figur wirkt sta- tisch, zu fester Form erstarrt. Alles Fleischlich-Sinnliche, alles Persönliche scheint hier ver- bannt. Doch halt: Hinter dem Akt schaut ein schwarzer Faltenrock hervor. Wir entdecken eine weitere, dunkle Figur. Eine Frau. Ihr Gesicht ist in die entgegengesetzte Richtung ge- wendet, doch scheint sie, wie ein Schatten, eine geheimnisvolle Aura, mit der Figur des Aktes fest verbunden – während an der linken Bildseite noch eine Hand und ein kleiner Fuß ins Bild ragen: die Verheißung eines Kommenden, der wie die dunkle Frau nicht in Gänze zu sehen ist. Was ist hier sachlich? Oder was ist zumindest eher sachlich – die männliche Figur, die nur noch einem architektonischen Element, einem Stuhlbein gleicht, oder nicht vielleicht doch die schnöden Zivilisationfundstücke wie die Autofeder, der Eierkarton oder die Milchflaschen, aus denen eine mythologische Figur entsteht? Und was ist surreal? In der bildenden Kunst verbinden wir mit diesem Begriff gern Bilder oder Dinge, die uns irgendwie unlogisch erschei-

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