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Kyllikki Zacharias 10 nen. Schmelzende Uhren zum Beispiel oder Darstellungen, die aus heterogenen Elementen zusammengesetzt sind. So gesehen lässt sich die Figurengruppe von Max Ernst leicht zum Inbegriff eines surrealistischen Werkes erklären, als das reine Fantasieprodukt eines Künstlers, der sich Anfang der 1920er-Jahre der Gruppe um André Breton in Paris anschloss. Doch ist eine Figur, die sich aus Milchflaschen und einem Eierkarton zusammensetzt, tatsächlich so viel »surrealer« als eine Figur, die wie ein Stuhlbein aussieht, hinter der wie ein Schatten ein schwarzer Faltenrock hervortritt? Oder finden sich nicht auch hier noch ganz andere Dinge, die über das, was wir gemeinhin als »real« verstehen, hinausgehen? Aber was ist »real«? Das Reale, so will es der gesunde Menschenverstand, bezeichnet zunächst dasjenige, was wirklich da ist, unabhängig davon, ob es wahrgenommen wird oder nicht. Sehr weit aber kommt man mit diesemModell nicht – und es ist keineswegs so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn der Begriff des »Realen« und in der Folge auch der des »Realis- mus« hängen davon ab, wie das Reale oder auch Wirkliche jeweils konzipiert wird. So können grundsätzlich alle Positionen vom Idealismus bis zumMaterialismus als »realistisch« bezeich- net werden, je nachdem, ob man mit Plato den Ideen objektive Wesenhaftigkeit zubilligt oder etwa im Gegenteil der Materie. Jeder Realismus beruht auf Voraussetzungen, die zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Weise – und zumeist stillschweigend – zugrunde gelegt wurden. Mithin lässt sich die Frage nach dem Realen nicht grundsätzlich klären, son- dern allenfalls in ihrem jeweiligen historischen Kontext punktuell beleuchten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – die Zeit, in die die neusachlichen und surrealistischen Künstler hineingeboren wurden – waren es vor allem positivistische und metaphysikkritische Auffassungen, die das moderne Konzept der Realität formten. Angesichts einer radikal tech- nisierten Welt war die Vorstellung einer höheren, transzendenten Realität ebenso fragwürdig geworden wie das humanistische Ideal eines Zusammenhanges des »Wahren, Guten, Schönen«, dem noch Schiller und Goethe anhingen. Für die Kunst hat Wassily Kandinsky das Auseinandertreten von realer und idealer Welt am klarsten benannt − mit dem Ziel, das dinghaft Materielle mit dem abstrakten Geistigen erneut zu versöhnen. In seinem Aufsatz zur Formfrage im Blauen Reiter (1912) spricht Kandinsky von einer »großen Realistik« und meint damit zunächst die gegenständliche Kunst, der er die »große Abstraktion« gegenüberstellt: reine Farben und reine Formen, die nichts als sich selbst bedeuten. Dahinter stand jedoch die Idee eines »schaffenden Geistes«, der sich all- mählich in der Welt des Realen verwirklicht und sie schließlich gänzlich durchdringt. Die »Realistik« wird so zur »Abstraktion« und umgekehrt (Kandinsky spricht von einem »Gesetz des Gegensatzes«), die »Abstraktion« zur »Realistik« – »Die größte Verschiedenheit im Äußeren«, so Kandinsky, »wird zur größten Gleichheit im Inneren«. 1 Noch im selben Jahr beginnen Picasso und Braque, erste Dinge, »reale Sachen« also, in ihre Bilder einzubauen und so die Frage nach dem Realen neu zu stellen. Denn was ist eigentlich real in der Malerei? Das eingeklebte Zeitungsstück? Oder nicht vielleicht doch das täuschend echt gemalte Stück Holz, wo es sich doch schon um ein Gemälde handelt, die Realität des Gemäldes also nicht die außerbildliche Welt, sondern die Wirklichkeit seiner eigenen Mittel, seiner Farben und Formen sein sollte?

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