Katalog
Surreale Sachlichkeit 11 Und noch ein weiterer Schritt: 1913 montierte Marcel Duchamp eine Fahrradgabel samt Fahrradfelge auf einen simplen Küchenschemel ( Fahrrad-Rad ) und schuf damit einen ersten Ausdruck dessen, was er zwei Jahre später »Ready-made« nannte. Ihm folgten weitere Objekte, wie das berühmte Pissoir ( Fountain, 1917) oder ein Flaschentrockner, den er in einem Brief aus der Ferne zu einem Ready-made erklären wollte. 2 Duchamp entkoppelte damit das (Kunst-)Werk vom Künstler. Das materielle Ding und die Idee der Kunst begannen, getrennte Wege zu gehen, die sich nur noch durch einen reinen Zufall, einen Mallarmée’schen »Coup des dés« begegneten – der Kunst wurden völlig neue, bislang ungeahnte Denkräume eröffnet. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob nicht das Konzept des Ready-mades die bedeutendste Einzelidee ist, die aus meinem Werk hervorgegangen ist«, bemerkte Duchamp später. 3 Das Ready-made ist – ähnlich dem »Gesetz des Gegensatzes« (Kandinsky) – eine paradoxale Konstruktion: Gerade die reinen, völlig kunstlosen, ja alltäglichen Sachen erhalten allein durch die Entscheidung des Künstlers und den dadurch gewandelten Blick des Betrachters eine neue, ideelle Realität. Sie sind reines Ding und zugleich Kunst. Anders als bei Kandinsky wird jedoch nicht versucht, auf diesemWege die Materie zu durchgeistigen, um zu einer neuen, höheren Synthese zu gelangen. Im Gegenteil. Die Verstörung des Betrachters wird nicht auf- gelöst, er bleibt perplex. Ein Ready-made, erklärte Duchamp 1959 in einem Interview, war für ihn »eine Form, die Möglichkeit in Abrede zu stellen, daß Kunst sich definieren ließe.« 4 Bei näherer Betrachtung erinnert Duchamps Verwendung unkünstlerischer, alltäglicher Ge- brauchsgegenstände aber auch an einen Kommentar von Otto Dix, der rückblickend auf seine Kunst erklärte: »Die Neue Sachlichkeit, das habe ich erfunden. Kunst machten die Expressio- nisten genug. Wir wollten die Dinge ganz nahe, klar sehen, beinahe ohne Kunst.« 5 Auch wenn diese Äußerung sicherlich cum grano salis zu verstehen ist – gerade auf Dix’ hohe, ja geradezu altmeisterliche Kunstfertigkeit ist immer wieder hingewiesen worden –, so steht sie doch in einer interessanten Parallele zu dem, was Marcel Duchamp und, in seiner Folge, die Surrealisten betrieben: Hier wie da geht es – und sei es nur als Vorwand – um eine reine, gegenständliche Wirklichkeit, während die Kunst irgendwo anders, darüber oder dazwischen, stattfindet. Über das Reale hinaus Wenngleich Duchamp, der auf seine Unabhängigkeit großen Wert legte, sich nie der Gruppe der Surrealisten anschloss, wurde er für sie zu einem wichtigen Förderer. Er half, ihre Ausstel- lungen auszurichten, und gestaltete ihre Kataloge. Darüber hinaus beeinflusste er sie mit sei- nem eigenen Werk, auch wenn es nicht sehr umfangreich ist. So hat der Künstler zeit seines Lebens wenig mehr als ein Dutzend verschiedene Ready-mades in kleinen, limitierten Auflagen geschaffen. Als eine Kunst der »gefundenen Dinge« (Objets trouvés) machte seine Idee jedoch bei den Dadaisten und – vor allem – den Surrealisten Karriere. Es entstanden unzählige Objek- te. 6 Auch Freunde, die nicht zum engeren Kreis der Surrealisten gehörten, schufen Werke aus zufällig aufgelesenen Alltagsgegenständen. Man denke nur an die Figuren und Tiere von Picas- so, die ähnlich wie Max Ernsts Capricorne aus verschiedenen Fundstücken zusammengefügt sind: ein Tierkopf, der lediglich aus einem Fahrradlenker und einem Sattel besteht, oder ein Kranich, der aus einem Korbhenkel, Gabeln, einemWasserhahn und einer Schaufel zusammengesetzt ist. Marcel Duchamp Fahrrad-Rad · 1913/1964 Paris, Centre Pompidou- CNAC-MNAM
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