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44 Reformation in Norddeutschland begrenzte militärische Möglichkeiten und standen zuneh- mend einer lutherischenMehrheit gegenüber. Weil aber die meisten norddeutschen Landesherren am alten Glauben festhielten, mussten die Verantwortlichen der Städte Inter- ventionen der Fürsten befürchten – Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel war für seine Kaisertreue bekannt (Abb. 4). Eingedenk vorangegangener Aufstände suchte der Braun- schweiger Rat 1526 eine Zuspitzung zu vermeiden. In Ab wesenheit des Kaisers hatte der Reichstag zu Speyer 1526 beschlossen, dass jeder Reichsstand bis zumAbhalten eines Konzils religionspolitisch so handeln dürfe, wie er meine, es gegenüber Kaiser und Gott verantworten zu können. Dies wurde als Möglichkeit einer legalen Entscheidung zwischen der alten Kirche und dem neuen Glauben interpretiert. Lutherische Fürsten schlossen sich politisch wiemilitärisch zusammen. Als dann Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel demKaiser in Italien zuHilfe kam, gewann der Rat dank Luther einen lutherischen Prediger für die Stadt. Nun aber ergab sich eine schier unendliche Vielzahl theolo- gischer, rechtlicher und ökonomischer Fragen, musste doch letztlich die Kirche als Hierarchie und System neu konsti tuiert werden. Erneut mit Unterstützung Luthers bat der Rat den Wittenberger Stadtgeistlichen Johannes Bugenha- gen in die Stadt, der ab Mai 1528 eine Reihe thematisch aus- gerichteter Predigten zu einer Kirchenordnung umarbei- tete. In sieben Kapiteln wurden Fragen der christlichen Lehre, der Liturgie, der Kompetenzen der lutherischen Prediger und der neu eingesetzten Superintendenten als Aufseher über die Geistlichen und das geistliche Leben in der Stadt, des Schulwesens sowie der Finanzierung der Armenfür- sorge wie der Geistlichen geregelt. Die hier festgelegten Kom- promisse, Normen und Definitionen schufen eine langfris- tig tragfähige und überzeugende Rechtsgrundlage (Abb. 5). Bugenhagens Ordnung wurde zumMuster, das beispiels- weise Hamburg, Lübeck und Hildesheimübernahmen und das auch von anderen Reformatoren wie Corvinus, Rhegius oder Chemnitz herangezogen wurde. Solche Kirchenord- nungen, die sich gedruckt rasch verbreiteten, erließen nun auch alle weiteren Städte in Norddeutschland. Ebenfalls beförderten die studierten Juristen und Theologen den Aus- tausch über ihre weitgespannten Kontakte. Keineswegs aber war die Phase der Spannungen und Zer- rissenheiten überwunden. Vielmehr blieben viele Geistliche im Amt, wurden in zahlreichen Kirchen noch über lange Zeit katholische Messen und lutherische bzw. reformierte Predigtgottesdienste zugleich gehalten und die medialen Auseinandersetzungen fortgeführt. Mancherorts wurden wie in Hildesheim die Altäre zur Seite gerückt, um Platz für die Gemeinde zu schaffen, doch viele Stiftungen der wohl- habenden Familien blieben zunächst bestehen. Die Kon- flikte entzweiten selbst Familien. Die meisten Franziskaner und Dominikaner verließen nach und nach ihre Konvente, die geschlossen und nachfolgend beispielsweise als Schulen weiter genutzt wurden. In der Abgrenzung von der alten Kirche und von anderen protestantischen Strömungen lag der Grundstein für die Bekenntnishaftigkeit des Luther- tums, das bald durch distinkte kulturelle Praktiken geprägt wurde. Wie einleitend gezeigt, galt dies beispielsweise für Beerdigungen und für die zunehmende Ausstattung der Kirchen mit Epitaphien. Hierzu gehörte auch die Kleidung der Kleriker, denn lutherische Geistliche durften zwar hin- Abb.5 Der Erbarn Stadt Braunschweig Christliche Orde=nung […]: Die Braunschweiger Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen, 1531, Kat.-Nr.100d
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