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83 Flüch Verfall oder Blüte, Krise oder Konjunktur? Kirchliche Frömmigkeit vor der Reformation Die Jahrzehnte vor dem Beginn der Reformation wurden lange als Krisenzeit, als Periode eines tiefen kirchlichen Verfalls begriffen. Auch wenn dieses Bild noch immer im populären Vorurteil gepflegt wird, ist die historische For- schung schon ein halbes Jahrhundert von dieser Ein- schätzung abgerückt. Die negativen Stereotypen sind letztlich die Nachwirkungen einer protestantischen Interpretation des reformatorischen Ereignisses: Am Ende der Zeiten, kurz vor dem Jüngsten Gericht, habe Gott mit Martin Luther einen Propheten erweckt, umdem »Antichristen« auf dem Stuhl Petri die Maske vom Ge­ sicht zu reißen und so dem reinen Evangelium wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Auch wenn die Überzeu- gungskraft dieser endzeitlichen Konzeption seit dem 18.Jahrhundert zu bröckeln begann, hat sich die daraus resultierende Einschätzung, der Zustand der Kirche sei vor der Reformation auf einen Tiefststand gesunken, bis heute gehalten. Im Gegensatz zu diesem Urteil steht für die Forschung inzwischen fest, dass die kirchlichen Heilsangebote in den Jahrzehnten vor der Reformation eine regelrechte Konjunktur erlebten.Dies ist bis heute in den zahlreichen Neu- und Umbauten von Kirchen und Kapellen in den Jahren um 1500 deutlich sichtbar, vor allem aber in der erhaltenen Ausstattung der Kirchen durch Altarretabel, Bildwerke, liturgische Geräte, Gewänder und Glocken, deren Stiftung und Herstellung gerade in jenen Jahren einen einmaligenBoomerlebten. 1 Die Sorge umdas eigene Seelenheil sowie jenes von Verwandten und Freunden ging unter wirtschaftlich günstigen Bedingungen mit dem Repräsentationsbedürfnis von Familien und ande- ren Gruppen eine Allianz ein, die auch für Bildschnitzer, Maler und Goldschmiede ein reiches Betätigungsfeld schuf. Die Jahre um 1500 waren damit eine der kirchen- frömmsten Zeiten des Mittelalters, wie es der Kirchen- historiker Bernd Moeller ausdrückte und damit auf eine vielgestaltige Intensivierung der Frömmigkeit verwies. 2 Aufgrund dieser Faktenlage könnte man dem überkom- menen Bild des Verfalls das Schlagwort einer religiösen Blüte entgegenstellen, wie es etwa der katholische His- toriker Johannes Janssen tat, für den die Reformation wie ein unzeitiger Frost in die florierende religiöse Kultur Deutschlands gefahren war. Aber auch eine solche Kon- struktion nützt unserem Verstehen wenig. Denn vieles von dem,was in der Reformation zur Entfaltung kam,war bereits zuvor präsent oder erscheint zumindest in der rückwärtigen Perspektive als längerfristige Tendenz: Aufsichtsrechte bei der Verwaltung von Kirchenvermö- gen, Einwirkungen auf geistliche Stellenbesetzungen und Beschränkungen der kirchlichen Gerichtsbarkeit hatten Fürsten, städtische Räte, Stifter und Bruder- schaften schon vor der Reformation durchgesetzt. Ansätze zu einer umfassenden Normierung des Lebens in den Städten und Territorienmit Berufung auf ein gott- gefälliges Verhalten häuften sich bereits im15.Jahrhun- dert. Der religiöse Bildungsstand der Laien war auch durch die deutsche Predigt – die keineswegs eine Erfin- dung der Reformation war – und die Verbreitung von volkssprachlicher Erbauungsliteratur mittels Buchdruck gewachsen. Das zunehmende Engagement der Laien für den Gottesdienst und eine christliche Lebensführung stellte den Vorrang der Geistlichen unterschwellig in­ frage. Auch hatten die Impulse der Reformkonzilien und monastischen Erneuerungsbewegungen jene Maßstäbe geschärft,mit denen die Kirche und ihr Personal beurteilt wurden.Klagen aus dieser Zeit über faule oder unkeusch lebende Priester oder Mönche müssen nicht unbedingt auf zunehmende Mängel in der Lebensführung hindeu- ten, sondern drücken gestiegene »Qualitätsstandards« aus.Dies alles schien allerdings um1500 nicht auf grund- stürzende Konflikte hinauszulaufen. Überhaupt ist be­ merkenswert, wie unproblematisch unterschiedliche Mentalitäten und Orientierungen vor der Reformation miteinander koexistieren konnten, wie Frömmigkeits- stile, die uns unvereinbar erscheinen, von denselben Per- sonen praktiziert wurden: Die auf innerliche Erbauung zielende Versenkung stand neben Massenevents bei Prozessionen und Wallfahrten, mystische Erfahrungen

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