Katalog

84 ig verbanden sich mit ritualisierten Handlungsformen. Exemplarisch steht dafür der Rosenkranz, der seit den 1470er Jahren seinen Siegeszug als Laiengebet antrat. Dieses Reihengebet zielte auf einen intensiven Nach­ vollzug der Passion Christi durch die Versenkung in die Erfahrungen seiner Mutter Maria. Dennoch gilt der Rosenkranz wegen seiner mittels Zählschnur gemesse- nen Gebetsleistung als paradigmatisches Beispiel einer »gezählten Frömmigkeit«, was Luther später als »Klap- pern der Steine« und »Plappern des Maules« verspot- tete. Einen unverstellten Blick auch auf die kirchlichen Ver- hältnisse bietet zumBeispiel das wohl um1515 erstmals gedruckte »Eulenspiegel«-Buch, dessen Verfasser sehr wahrscheinlich der Braunschweiger Zollschreiber Her- mann Bote war. Der auch im Braunschweiger Raum an­ gesiedelte Erzählstoff berührt viele Aspekte des kirch­ lichen Lebens: Taufe und Begräbnis, Beichte und Mess- feier, das Leben der Landpfarrer und in den Klöstern, liturgische Inszenierungen, Pilgerfahrten, Predigt und Reliquienverehrung. Obgleich auch diese Lebensberei- che dem Spott ausgesetzt werden, ist der »Eulenspie- gel« kein antikirchliches oder antiklerikales Buch. Viel- mehr zeigt es, dass wenige Jahre vor der Reformation die kirchliche Praxis auch durch Missbrauch und Betrug noch nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde. Ein anderes Schlaglicht auf die Stimmungslage kurz vor dem öffentlichen Auftreten Luthers wirft eine Anfrage, mit welcher der Rektor der städtischen Braunschweiger Lateinschule, Heinrich Hanner, im Juni 1517 von einem jungen Priester Auskunft über verschiedene Fragen zum Ablasswesen erbat. 3 Der um Rat Gebetene, Thomas Müntzer, sollte in den folgenden Jahren zu einemder pro- filiertesten Vertreter der reformatorischen Bewegung werden.Müntzer besaß seit 1514 eine Altaristenstelle in der Michaeliskirche der Braunschweiger Altstadt. Er hatte mit etwa 25 Jahren seine universitäre Ausbildung abgeschlossen, empfing die Priesterweihe und erhielt mit der Braunschweiger Pfründe seine erste »feste« Stelle.Dieser Berufsstart einesWeltpriesters war durch- aus typisch und eingebunden in die städtischen Struk- turen, da die Familie des Stifters, der Stadtrat und der Pfarrer bei der Anstellung eines Messpriesters auf je eigeneWeise beteiligt waren.All dies war Teil des öffent- lichen Lebens der Stadt: Es gab im vorreformatorischen Braunschweig etwa 60 Kirchen und Kapellen, an deren gut 200 Altären etwa 500 Geistliche amtierten – freilich in starker Differenzierung nach Status und Besitz: von den Stiftsherren über die meist gut besoldeten Pfarrer, die Priester in den klösterlichen Lebensgemeinschaften und die Weltpriester mit Altarpfründen bis hin zu den »Heuerpfaffen«, die als Klerikerproletariat unter prekä- ren Bedingungen Dienst taten. 4 AuchMüntzer erhielt aus seiner Pfründe nur ein bescheidenes Jahresgehalt von knapp 14 Gulden, weshalb er wenig später zusätzlich eine Seelsorgestelle im Kanonissenstift Frose bei Aschersleben übernahm. In seinem liturgischen Dienst am Marienaltar der Michaeliskirche ließ er sich durch einen Kaplan vertreten, der dafür mit neun Gulden jähr- lich entlohnt wurde. Als Müntzer die erwähnte Anfrage im Juni 1517 erhielt, wohnte er – wahrscheinlich während eines Besuches in Braunschweig – im Hause des Fernhändlers Hans Pelt. Mit ihm und weiteren begüterten Braunschweiger Bür- gernwie Hans Horneburg,Hans Damman und Peter Hum- mel unterhielt Müntzer persönliche Kontakte, in denen es auch um eine vertiefte Christusfrömmigkeit ging. Dieser Kreis von Laien bildete später jene Pressure-Group, die der reformatorischen Bewegung in Braun- schweig zum Durchbruch verhalf. 5 Das von Hanner an Müntzer gerichtete Schreiben betraf grundlegende Probleme der Ablasspraxis, etwa wie weit die Vollmacht des Papstes zur Sündenvergebung reiche oder ob der Schatz der Kirche, aus demder Ablass fließe, durch die Verdienste der Heiligen vermehrt werde. Schließlich ging es um einen Ablass, der von den Domi- nikanern kürzlich verkündet wurde, gegen den sich aber die städtischen Geistlichenwandten.Ein anderes Thema

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