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175 Stadt und Reformation Die in der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts vonWitten- berg ausgehenden reformatorischen Ideen entfalteten in den Städten eine besonders nachhaltige Wirkung. Das Bürgertum spielte für die erfolgreiche Verbreitung der Reformation eine kaum zu überschätzende Rolle. Der amerikanische Kirchenhistoriker Arthur Dickens hat die Reformation sogar einmal als ein »urban event« charak- terisiert. 1 In Deutschland war seit dem 13.Jahrhundert ein dichtes Städtenetz entstanden.Bereits in der hier zu betrachten- den ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte ein erheb- licher Teil der Bevölkerung in Städten. Im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel zum Beispiel lag der Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung bei etwa einem Drittel. Die Kommunen waren nicht nur Bevölke- rungs- und Wirtschaftszentren, sondern zugleich auch Zentren für Religion und Bildung. In den Städten bündel- ten sich außerdemdie Kommunikationsstränge der Zeit. In diesem Bereich eröffneten sich durch die Erfindung des Buchdrucksmit beweglichen Lettern in der Mitte des 15. Jahrhunderts ganz neue Optionen. Die Buchhändler waren nun in der Lage, einer entsprechend gebildeten städtischen Leserschicht innerhalb kürzester Zeit die neuesten Druckerzeugnisse anzubieten. Die wohl wichtigste Voraussetzung für die rasche Ver- breitung reformatorischer Gedanken in den Städten war jedoch die intensive Frömmigkeit des späten Mittel­ alters:ImMittelpunkt stand die Sorge umdas Seelenheil der Lebenden und der Toten. Eine unüberschaubare Zahl von Stiftungen und guten Werken trug dieser Sorge Rechnung. Hierher gehört auch das von Luther so kriti- sierte Ablasswesen.Die zunehmende Frömmigkeit hatte bei vielen Stadtbürgern schon vor der Reformation ein großes Interesse an religiösen Themen wachsen lassen. Besitz und Lektüre theologischer Schriften waren in den norddeutschen Städten um 1500 durchaus auch unter Laien verbreitet. Die Bürger verstanden die von zahl­ reichen geistlichen Institutionen geprägte Stadtgesell- schaft als »Sakralgemeinschaft«, für sie bestand eine Einheit zwischen Bürgergemeinde und Glaubensgemein- schaft. 2 In einer solchen Bürgerschaft fand das Gemein- deprinzip der reformatorischen Theologie eine wichtige Basis für seine erfolgreiche Verbreitung. Welchen Verlauf die Reformation in einer Stadt nahm, war von den jeweiligen inneren und äußeren Rahmenbe- dingungen abhängig.Die bestimmenden Faktorenwaren dabei das Zusammenspiel von geistlichen undweltlichen Handlungsträgern, die je nach Kommune unterschied­ lichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedin- gungen und das jeweilige Maß an Handlungsfreiheit gegenüber dem Stadtherrn. Der Weg bis zur Durch­ setzung der Reformation innerhalb einer Kommune war in der Regel einmehrstufiger Prozess, der sich über Jahre hinziehen konnte. Stadtreformation in Niedersachsen Nimmt man den Ablauf der Reformation in den Städten im Südosten Niedersachsens in den Blick, so kann man bei allen von Stadt zu Stadt bestehenden Unterschieden doch ein Muster erkennen. Als erste Träger reformatori- scher Gedanken erscheinen in der Regel Bürger, die außerhalb der im Rat zusammengeschlossenen politi- schen Führungsgruppe der jeweiligen Stadt standen.Das reformatorische Gedankengut konnte über die Lektüre von Luthers Schriften, durch direkte Verbindungen in das Zentrumder Reformation inWittenberg (Studienaufent- halt) oder durch das Auftreten reformatorisch gesinnter Persönlichkeiten in die Stadt getragenwerden. In Braun- schweig etwa sind erste frühreformatorisch gesinnte Kreise in der Bürgerschaft schon 1514/15 imZusammen- hang mit dem kurzzeitigen Wirken von Thomas Müntzer

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