Katalog
41 Erste Rezeptionen lutherischer Lehre In Norddeutschland wurde der sogenannte Thesenanschlag Luthers erst viel später rezipiert. Doch das religiöse Wissen begann sich wenige Jahre nach 1517 zu verändern, denn in rasch wachsendem Umfang fanden die Schriften Luthers und weiterer Reformatoren unter den Gelehrten und Gebil- deten der Städte Verbreitung. Die Publikation in deutscher Sprache steigerte die Absatzchancen. Luthers Schriften tra- fen den Nerv der Zeit, denn die Menschen suchten nach Sicherheit für ihr Seelenheil und hattenMühe, in demüber- aus vielfältigen Angebot der Kirche Orientierung zu finden. Gleichzeitig meinten viele, dass Klerus und Papsttum den theologisch fundierten Ansprüchen nur bedingt genügten. Anfangs wurden die Schriften Luthers als Teil inneruniver- sitärer und innerklerikaler Auseinandersetzungen wahrge- nommen und stießen besonders in den Klöstern auf offene Ohren. Mönche wie Gottschalk Kruse ließen sich von Luther begeistern und traten aus ihrem Orden aus. Um die Mitte der 1520er Jahre begannen in Norddeutschland einzelne Kleriker, entlaufeneMönche, vereinzelt auch Studenten der Universität Wittenberg, Luthers Lehre zu predigen. Sie wandten sich zugleich gegen die Orden und Klöster und griffen die weitverbreitete Kritik am Klerus auf. Indem sie sich konsequent auf die Bibel bezogen und auf komplexe kirchenhistorische Herleitungen wenig Rücksicht nahmen, vermittelten sie teilweise holzschnittartig religiöses Wissen, das jedoch überaus fundiert wirkte. Hinzu kamen Zuspit- zungen und nachfolgend Schmähungen. Alle Aspekte ein- schließlich der rasch wachsenden Anzahl gedruckter Schrif- ten erregten große Aufmerksamkeit. Immer mehr Men- schen in den Städten wollten nun lutherische Predigten auch in den Pfarrkirchen hören, und viele sahen die Not- wendigkeit, sich für oder gegen die alte Kirche entscheiden zu müssen. Hinzu kamen in allen norddeutschen Städten soziale wie politische Spannungen, sodass besonders Hand- werker und Knechte Luthers Lehre von der Gleichheit der Menschen vor Gott als eine soziale Vision begriffen, die zu erreichen nun möglich schien. In den späten 1520er Jahren suchten nur einzelne Gemeindemitglieder die Konfronta- tionmit den altgläubigen Klerikern, doch das Unterbrechen der Messe oder das Singen von ins Deutsche übersetzten Psalmen wirkte wie ein Schock, galten Klerus und Messe doch bis dahin als unantastbar. Solche Störungen blieben weitgehend ungeahndet, auch weil die Bischöfe ihrer Auf- gabe als geistliche Richter allenfalls bruchstückhaft nach kamen. Kaum einer der Bischöfe, von Erzbischof Christoph von Bremen einmal abgesehen, trat den lutherischen Pre- digern vehement entgegen. So entstand eine Phase der all- gemeinen Unsicherheit, was durch Nachrichten über die Vorstöße türkischer Heere, die Erhebungen der Bauern im Südwesten des Reiches und die Plünderungen von Burgen und Klöstern noch verstärkt wurde. Nicht nur wurden Geistliche verfolgt, sondern zunehmend sprachen die Menschen von »geschwinden« oder »gefährlichen« Zeiten (Abb. 2). Die Annahme der lutherischen Lehre in den Städten Norddeutschlands Die Niederschlagung des Bauernkriegs und die Hinwen- dung einzelner Fürstenwie Johann von Sachsen und Philipp von Hessen zum lutherischen Glauben führten nach 1525 zu einer Festigung der Position Luthers, der sich schon zuvor hinter die Obrigkeit gestellt hatte. In den Städten Norddeutschlands begann eine Phase der Annahme des lutherischen Glaubens einschließlich der formalrechtlichen Formulierung zentraler Inhalte, die sich bis in die 40er Jahre des 16. Jahrhunderts hinzog. Zunächst aber eskalierten die Konflikte in fast allen norddeutschen Städten, so beispiels- weise in Göttingen, Hannover, Lübeck, Bremen, Ganders- heim und Emden. In den Kirchen wurden Ausstattungs gegenstände zerstört, denn die Bilder und Plastiken sollten ihrer Würde und Heilskraft beraubt werden. Dies aber ver- stärkte die Befürchtungen, dass die städtische Rechtsord- nung in Gefahr wäre. Demversuchteman inmanchen Städ-
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