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33 Der Glaube an die Zivilisation, »in dem sich die Moderne selbst anbetet« 8 , ist in dieser Perspek- tive nichts anderes als ein eurozentrischer zivilisations- und entwicklungstheoretischer Mythos, weil es ihm nicht gelingt, »ein früheres ›Mehr‹ von einem heutigen ›Weniger‹ an Gewalt eindeutig [zu] unterscheiden«. So zerrinnen denn »jene Gewi[ss]heiten, denen zufolge die europäische Moderne mit einem allmählichen Übergang zur Gewaltvermeidung, wenn nicht Gewaltfreiheit gleichgesetzt wird.« 9 Unter bestimmtenVoraussetzungen und in bestimmten Kontexten kann Gewalt auch berech- tigt sein. Man darf sogar vermuten, dass gesellschaftliches Zusammenleben ohne jegliche Strukturen der Herrschaft und damit der Gewalt – transkulturell auch in der modernen Gesellschaft der Gegenwart und der Zukunft – schlichtweg unmöglich und Gewalt deswegen »normal« ist. Gewalt ist folglich eine anthropologisch-gesellschaftliche Konstante und hat auch unter Gesichtspunkten der sozialen Funktionalität ihre normative Daseinsberechtigung. »Keine menschliche Gesellschaft kann letztlich dem Paradox entgehen, da[ss] sie mit Gewaltanwendung gewaltlose [besser: weniger gewaltbesetzte] Zustände herbeiführen möchte.« 10 Vor diesem Hintergrund scheint es für eine saubere Analyse unerlässlich zu sein, Hypothe- sen für die Entwicklung des Gewaltpegels in der Menschheitsgeschichte zu entwickeln. Rolf Peter Sieferle benennt »drei Möglichkeiten einer zeitlich-historischen Veränderung des Gewaltniveaus: (1) Das Ausmaß von Gewalt bzw. Gewalttätigkeit bleibt historisch konstant. (2) Es gibt eine historische Tendenz zur Abnahme (Zivilisierung) oder Zunahme (Barbarisie- rung) von Gewalt. (3) Es gibt Veränderungen im Gewaltniveau, doch haben diese keine ein- deutige Tendenz, sondern es handelt sich um einen richtungslosen Wandel der Formen.« 11 Es spricht einiges für die Plausibilität der dritten Annahme. In diesem Sinne ist auch Wolf- gang Sofsky zu verstehen, wenn er schreibt: »Die Gewalt ist das Schicksal der Gattung. Was sich ändert, sind ihre Formen, ihre Orte und Zeiten, die technische Effizienz, der institutio- nelle Rahmen und der legitimatorische Sinn. [. . .] Die Gewalt [. . .] wird vollstreckt auf dem jeweiligen Stand der Destruktivkräfte. Von Rückschritten vermag nur zu reden, wer an Fort- schritt glaubt.« 12 Elias selbst hat sich ein Stück weit auf die vorgebrachte Kritik eingelassen, will aber auch fest- gehalten wissen: »Die Vorstellung einer naturnotwendigen sozialen Entwicklung in die Richtung auf ein glücklicheres Zusammenleben der Menschen ist mir völlig fremd. Den Fortschritt, an den manche unserer Väter glaubten, den universellen und automatischen Fortschritt, gibt es nicht. Aber Fortschritte, ebenso wie Rückschritte in bestimmter Hinsicht, lassen sich beobachten. [...] DieVorstellung einer universell geradlinigenVorwärtsentwicklung der Gesellschaft ist sicherlich irreführend. Aber es ist ebenfalls irreführend anzunehmen, da[ss] es überhaupt keine langen Entwicklungsgänge in einer Richtung gibt.« 13 Vorerst muss aber die Vorstellung einer gewaltlosen und gewaltfreien Gesellschaft in das Reich der Utopie verwiesen werden, wenngleich »Gewaltfreiheit« als »regulative Idee« nicht verwor- fen werden sollte, mit anderenWorten: Sie ist ein »Ziel, das angesichts widerstreitender Evidenz nicht aufgegeben werden sollte.« 14 | 1 | Weibliche Verletzungs­ mächtigkeit I: Max Ernst: Die Jungfrau züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen, 1926

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