Katalog
76 weise in der Konfrontation zwischen Theseus und Antiope (Abb. 4) eine konkrete, im Mythos verankerte Reflexion einer in Teilen militärisch durchgeführten Siedlungsgenese Athens zu sehen, die auch zur Einbindung fremdartig wirkender, nomadisierender Bevölkerungsteile in den neuen Stadtverband führte. 4 Diese exemplarisch dargestellten Argumentationsebenen – die Suche nach archäologisch kon- kreten Belegen, das kulturell Fremde als Ursprung der Sage bzw. die mythische Reflexion von Ereignisgeschichte – verdeutlichen in besonderemMaße, wie stark ein Teil der heutigenWissen- schaft von der Idee beseelt ist, einen »wahren« Kern der Amazonenüberlieferungen zu finden. 5 Doch diese moderne Konstruktion antiker Realität verkennt häufig die außerordentliche Komple- xität des Mythos, der weder durch eine Fokussierung auf einzelne Episoden noch durch Missach- tung chronologischer Stringenz in der historisch-archäologischen Überlieferung an Aussagekraft gewinnt. Treffend formuliert Bert Kaeser 6 in diesem Zusammenhang: »Gibt es eine Heilung von der Sucht, frühe Sagen und Dichtungen auf die kleinstmögliche Realität herunter zu bringen?« Einheit durch Vielfalt Der Amazonenmythos ist keine konstante Größe in der antiken Sagenwelt. Die Erzählungen über das kriegerische Frauenvolk sind sehr facettenreich, im Laufe der Zeit wandelbar, mitunter widersprüchlich oder sogar zugleich in unterschiedlichen Varianten im Umlauf. Ein prägnantes Beispiel sind die Taten der griechischen Heroen Herakles und Theseus, die je nach Überlieferung entweder gemeinsam oder in zeitlich aufeinander folgenden, eigenen Abenteuern gegen die Kriegerinnen in ihrem sagenumwobenen Reich Themiskyra ins Feld ziehen. 7 Auch sind ihre Geg- nerinnen trotz vermeintlich fester Tradition namentlich durchaus unterschiedlich in Wort 8 und Bild präsent, und schließlich ist nicht einmal ihr Stammgebiet deckungsgleich überliefert, wie eine grafische Umsetzung der in den antiken Schriften jeweils vermerkten Herkunftsregionen besonders eindrücklich vor Augen führen kann (Abb. 3). Von den Gebieten rund um das Schwarze Meer über den Westen Kleinasiens bis hin zur nordafrikanischen Küste sind die Amazonen je nach Erzählkontext verortet. Die Vielfalt in den Amazonensagen offenbart somit eine Komplexität, die einer überzeugenden Interpretation der Erzählungen entgegenzustehen scheint. Doch wendet man sich – ganz im Kaeser’schen Sinne – von der »Sucht«, den Realitätsgehalt früher Mythen zu prüfen, ab und demgegenüber dem Versuch zu, mittels »Mustererkennung« die Charakteristika der Mythen- stränge zu fassen, so zeigt sich eine bemerkenswerte Einheit in dieser Vielfalt. Trotz unterschied- licher Handlungsräume, Zeitstufen oder beteiligter ProtagonistInnen lassen sich auf diesem Wege die Grundmuster der jeweiligen Überlieferungen »extrahieren«, werden Gemeinsamkeiten offensichtlich und die Kernaussagen der Erzählstränge fassbar. | 2 | Die Darstellung der Amazone Smyrna auf dem Revers einer Münze (ca. 209–211 n. Chr.) des römischen Kaisers Geta, Wien, Kunsthistorisches Museum | 3 | s Verortung der Amazonen mythen auf Basis der antiken Überlieferung
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