Katalog
79 Der erotische Aspekt DieAmazonen sind furchteinflößende Kriegerinnen, aber eben auch schöne und begehrenswerte Frauen, wodurch es zu einem Rollentausch innerhalb der Erzählstruktur kommen kann. So wird aus der ursprünglichen Entführung Antiopes durch den athenischen Heros Theseus eine Liebes- geschichte, an deren Ende Antiope auf Seiten der Griechen gegen ihr eigenes Volk kämpft, das eigentlich zu ihrer Rettung in Athen einfällt. Aus der einstigen Feindin wird die Geliebte, die nun die griechische gegen ihre eigene Kultur verteidigt. 12 Die Forschung sollte sich allerdings davor hüten, derartige Erzählstränge als Reflexe griechischer Ereignisgeschichte zu werten. Die These, die Theseus-Antiope-Episode sei – in mythischer Umsetzung – als Einbindung nomadischer Gruppierungen in den athenischen Stadtverbund zu verstehen, verliert sehr schnell an Stringenz, sobald das Abenteuer nicht mehr isoliert betrach- tet wird. So spielt bei der Konfrontation Achilleus – Penthesileia der Faktor Erotik in späteren Erzählungen ebenfalls eine sehr große Rolle, in denen sich der griechische Heros in die sterbende Amazonenkönigin verliebt. 13 Herakles bekämpft nicht nur das kriegerische Frauenvolk, sondern ist im Rahmen seiner zwölf kanonischen Taten auf der Suche nach dem Gürtel der Amazonenkönigin Hippolyte. Dieses sogenannte Gürtelmotiv ist erstmals in der literarischen Tradition 14 des 5. Jahrhunderts v. Chr. nachweisbar und findet auch in der Vasenmalerei der archaischen Zeit keine Verwendung, sodass die Vermutung einer nachträglichen Ergänzung des bereits bestehenden Mythos nahe- liegt. Hervorzuheben ist in unserem Zusammenhang vor allem der Symbolwert des Gürtels, der nicht nur als Siegestrophäe, als Rangzeichen zu verstehen ist, sondern eben auch eine erotische Konnotation innehat. Die Gürtelübergabe bedeutet im übertragenen Sinne, sich preiszugeben, eine sexuelle Bindung einzugehen, die durch das Motiv des Gürtelraubs in der Forschung auch als Synonym für eine erzwungene sexuelle Vereinigung des Siegers mit der Besiegten interpre- tiert wird. 15 Herakles erobert mit dem Gürtel der Hippolyte somit nicht nur das Machtsymbol der Amazonenkönigin, sondern zugleich auch die begehrenswerte Frau, die sich ihm im Zweikampf gestellt hat. Trotz unterschiedlicher Erzählstränge ist demzufolge ein weiteres zentrales Motiv erkennbar: die untrennbare Verbindung von Dominanz und Erotik. In der Amazonenepisode Alexanders des Großen erreicht dieser Aspekt des Mythos seinen Zenit. 16 Anders als seine mythischen »Vorgänger« muss der makedonische Feldherr Thalestris nicht einmal mehr im Kampf besiegen, bevor es zu einer sexuellen Handlung kommt. Die Ares-Tochter selbst tritt als Bittstellerin umNachkommenschaft vor Alexander auf, teilt mit ihm auf eigenenWunsch und für einen längeren Zeitraumdas Nachtlager und verschwindet anschlie- ßend wieder in der mystischen Ferne, aus der sie zuvor unvermittelt erschienen ist. Ist das zentrale Motiv der früheren Mythen ja gerade die erfolgreiche Überwindung der Kriegerinnen, die in der Folge einen erotischen Bezug des Siegers zur Besiegten erst ermöglicht, so ist durch das gezielt formulierte Anliegen seitens Thalestris die aktive Rolle klar auf Seiten der Amazo- nenkönigin. Diese aktive Rolle ist jedoch gleichbedeutend mit einem Eingeständnis der eigenen Unterlegenheit, in dem Thalestris die Gunst Alexanders zu erwerben sucht, ohne sich vorher mit ihm im Kampf gemessen zu haben. Hier übertrifft der makedonische Herrscher in der Legen- denbildung seine mythischen Vorbilder – und hier zeigt sich erneut die außerordentliche Flexi- bilität in der Erzählstruktur des Mythos, der je nach intendierter Aussage verändert, erweitert, aktualisiert werden kann.
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