Katalog

171 Maria do Carmo Pereira de Sousa, genannt Dona Carmen, ist 47 Jahre alt, klein, kräftig, die Haare hat sie stramm zurückgebunden. Wenn sie lacht, sieht man breite Zahnlücken. Gäste empfängt sie in einer Bretterbude hinter der fensterlosen Ziegelhütte, in der sie lebt. Der Boden ist aus Lehm, der Wind pfeift durch die Ritzen, die Stühle und Tische sind kaputt, es gibt einen Grill, eine Mikrowelle und eine Musikanlage. Alles sieht so aus, als hätte man Sperrmüll abgeladen, aber es ist der Gemeinschaftsraum der Frauen von Menino Chorão, der ärmsten Siedlung am Rand der blühenden Industriestadt Campinas, gut 100 Kilometer nördlich von São Paulo. Nur wenige Hundert Meter entfernt starten Flugzeuge imMinutentakt in ein besseres Leben als das, das die Menschen hier führen. Man nennt Campinas wegen seiner Hightech-Industrie und zahlreichen IT-Firmen auch das brasilianische Silicon Valley. Davon hat Dona Carmen aber noch nie gehört. Sie kann nicht lesen und nicht schreiben. Doch das Leben macht ihr nichts mehr vor. »Menino Chorão« bedeutet auf Deutsch »weinender Junge«. Es ist auch der Titel eines Liedes über Straßenkinder, »so wie ich eins war«, erzählt Dona Carmen. »Doch man darf die Hoffnung nicht aufgeben, dass das Leben besser wird. Deshalb habe ich meiner Favela diesen Namen gegeben.« Tagsüber arbeitet sie als Küchenhilfe, abends kümmert sie sich um ihren kleinen Ort. Auf die Idee mit der Disciplina kam sie, weil sie wusste, wo man brasilianische Männer am besten trifft, »und ich wusste, dass sich etwas ändern muss. Die Männer schlagen, wenn sie trinken oder Drogen nehmen. Die sind immer im Spiel. Also muss der Alkohol weg. Aber dazu sind die Männer nicht ohne Weiteres bereit. Deshalb gibt es eine Strafe, bis zu einem Monat keinen Sex und keine Teilnahme an Fußballspielen. Das ist eine Demütigung, die sich im Viertel herumspricht. Wenn der Mann seinen Fehler nicht einsieht, muss er gehen. Allein oder mit der Frau, falls sie bei ihm bleiben will.« Sie lacht. Es ist ein selbstbewusstes Lachen, fast spöttisch. Mehr als 50 Paare haben Menino Chorão inzwischen verlassen, etwa 30 Männer sind alleine gegangen. Sind die Maßnahmen nicht sehr drastisch, möchte man wissen, roh und gefährlich, eine Form von Selbstjustiz. Immerhin haben sich viele Frauen Knüppel beschafft, mit denen sie die Männer zusammen außer Gefecht setzen. Dona Carmen überlegt nicht lange. Sie nennt die Disciplina Notwehr. »Niemand hilft uns hier. Hierher kommt keiner, nicht einmal Krankenwagen. Außerdem sollen die Männer selbst spüren, wie es sich anfühlt, geschlagen zu werden. Dafür muss der Betroffene wieder ausgenüchtert sein. Wir binden ihn dann an den großen Baum am Fußballfeld. Entweder darf seine Frau zuschlagen oder wir schlagen ihn. Sie entscheidet darüber.« | 1 | S. 169 Dank Dona Carmen wehren sich die Frauen in Menino Chorão gegen die gewalt­ tätigen Männer. w | 2 | Bürgermeisterin Dona Carmen vor ihrer Hütte w | 3 | Lucia vor ihrer Küche; sie trägt immer ein Messer bei sich zum Schutz vor ihrem Mann. | 4 | s Die Drogenbosse überließen den Frauen die »erste femi- nistische Favela Brasiliens«.

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