Katalog

31 Eine Reise von Rise Against und Norbert Elias . . . Rise Against ist eine in Chicago, Illinois, beheimatete US-amerikanische Melodic Punk-/Hard- core-Band, die zu den einer größeren Zuhörerschaft bekannten Vertretern ihres Genres gehört und immer wieder aktuelle und kontroverse politische und soziale Themen aufgreift. In ihrem neuen, mittlerweile bereits achten Studioalbum »Wolves«, das Anfang Juni 2017 veröffentlicht wurde, ist dies nicht anders. So trägt die erste Singleauskopplung den Titel »TheViolence«, was sie für den vorliegenden Beitrag qualifiziert; so fragen sich die Bandmitglieder und ihre Zuhöre- rInnen doch im Refrain des Songs: »Are we not good enough? Are we not brave enough? To become something greater than the violence in our nature?« 1 Sie äußern damit die Hoffnung auf eine Möglichkeit zur Überwindung der Gewalt in der Gesellschaft, deren Existenz sie mit großem Bedauern, aber auch mit einer gehörigen Portion Trotz feststellen. Mit dieser Hoffnung auf eine gewaltfreiere Gesellschaft stehen sie bei Weitem nicht allein. Ins- besondere seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert besteht ein gewisses Zutrauen, den dunklen Seiten der Gewalt in der Moderne durchVernunft und Rationalität, aber auch durch so etwas wie »gute« Gewalt in Form von Macht und Herrschaft beikommen zu können. So gilt der von Charles Tilly in der Nachfolge etwa von Georg Simmel und Max Weber eindrucksvoll beschriebene Pro- zess der Nationalstaatswerdung als ein keineswegs erfolgloser Versuch der Einhegung und Domestizierung der Gewalt in der Gesellschaft. 2 Einer der Mitbegründer der Soziologie, Emile Durkheim, trug in seiner Schrift über die Teilung der sozialen Arbeit aus einer anderen Perspektive eindrucksvoll eine noch optimistischere evoluti- onstheoretische Annahme über den friedlichen Charakter der Moderne vor. 3 In dieser Lesart lassen die Aufklärung, der Prozess der Verwissenschaftlichung und die wachsende soziale Dif- ferenzierung infolge der Entwicklung der modernen Industriegesellschaft die Gewalt in den interpersonalen Beziehungen zunehmend zurücktreten. Vielleicht am prägnantesten wurde diese Annahme indes von Norbert Elias vorgetragen. 4 Er entwickelte in seiner erstmals 1939 erschienenen Studie über den »Prozess der Zivilisation« am Beispiel (undVorbild) der westlichen Staats- und Gesellschaftsentwicklung den Gedanken, dass sich die Menschheit humanisiert und zivilisiert und eine Kontrolle der Affekte mit der Folge einer Domestizierung der Gewalt gelingt. 5 Im Zivilisationsprozess wird Elias zufolge die Gewalt im gesellschaftlichen Umgang und vor allem imVerhältnis zwischen staatlicher Zentralgewalt und den Bürgern zurückgedrängt. . . . über Hans Peter Duerr und die »Dialektik der Aufklärung« . . . Dem hält Hans Peter Duerr, der wichtigste »Anti-Elias«, in seiner monumentalen fünfbändigen Replik unter dem Titel »Der Mythos vom Zivilisationsprozess« entgegen, dass die Entwicklung der Menschheit keineswegs so unidirektional verläuft, wie Elias annimmt. 6 In der Tat muss man gar nicht weit in die Geschichte zurückgehen, um festzustellen, dass Gewalt auch in modernen Gesellschaften über verschiedene Kulturen hinweg immer noch soziale Realität ist und in vielen Bereichen eine regelrechte Perfektionierung und Technisierung der Gewaltanwendung stattge- funden hat. Das reicht von dem in industrieller Manier betriebenen Völkermord der Nationalso- zialisten imHolocaust bis hin zu den Foltermethoden der Gegenwart. Zivilisation/Aufklärung und Gewalt/Barbarei sind kopräsent; die Aufklärung, so in Anlehnung an die »Dialektik der Aufklä- rung« von Max Horkheimer und TheodorW. Adorno, ist gegen Rückfälle in die Barbarei eben nicht gefeit. 7 Gewalt ist somit gleichsam eine normale Pathologie jeglicher, also auch moderner Gesellschaften.

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