Katalog

168 B öhmes Wirkung Kunst«: »Wenn die Künstler des Sturms von ›ab­ strakter Kunst‹ sprechen […], so meinen sie stets und ausschließlich die Bindung der Kunst an den geistigen Inhalt und die Verkündigung der geistigen Wirklichkeit als den Sinn des künstlerischen Schaf- fens.« 4 Die Künstler sehen sich in der Rolle von Ver- mittlern der Schau geistiger Welten, die sie in ein Farbformsinnbild umwandeln. Schreyer spricht von einer religiösen Bewegung, die vonMystik und Magie bestimmt sei. Er beschreibt den Sturm und später das Bauhaus als künstlerische Gesinnungsgemein- schaft, in der die Künstler auch durch persönliche Freundschaft eng miteinander verbunden gewesen seien. Schreyer befasste sich schon vor seiner Tätig- keit als Meister und Leiter der Bühnenklasse am Bauhaus (1921–1923) intensiv mit den Werken des mystischen Philosophen Jacob Böhme, und es scheint, diese Beschäftigung war entscheidend für die Ent- wicklung seiner Ideen über die Rolle von Kunst in der Erneuerung der Gesellschaft. In einer Notiz ver- merkt er, dass er Böhmes Schriften durch seinen Freund, den Maler Karl Thylmann, kennengelernt habe. 5 Auch die Rosenkreuzerschriften und Texte östlicher Mystik sowie die Werke von Paracelsus und Meister Eckhart sind Bestandteile seiner Lektüre. 1924 gibt er eine kommentierte Ausgabe von Böhmes »Vom dreifachen Leben des Menschen« heraus, die in theologischen Zeitschriften rezensiert wird, im Jahr darauf erscheint sein Buch »Die Lehre des Jakob Böhme«. 6 In letztgenanntem Werk beschäftigt ihn besonders das von Böhme behandelte Thema der gegensätzlichen Kräfte in der Natur. Er schreibt, das Vollkommene sei in der Erscheinung verkündet durch den harmonischen Ausgleich der Kräfte. 7 Und er notiert: »Die Harmonie kann sich nicht offenbaren ohne das Bewußtsein der Gegensätzlichkeit.« 8 Die Zeit vor und nach dem ErstenWeltkrieg ist geprägt von unterschiedlichen geistigen Strömun- gen, die auf den Expressionismus und das Bauhaus nachhaltig gewirkt haben. Der Kunsthistoriker Sixten Ringbom spricht von einer »Woge des Irrationalis- mus« um 1900, der sich in der Wissenschaft und Pseudowissenschaft beispielsweise mit Untersuchun- gen von Phänomenen des Spiritismus abgezeichnet habe. 9 Im Jahr 1875 gründet Helena Blavatsky mit Henry Steel Olcott in New York die Theosophische Gesellschaft (TG). Diese baut auf eine ältere europä- ische Tradition der Theosophie, verbindet aber ver- schiedene östliche und westliche Weisheitslehren miteinander, unter anderem die Schriften der Rosen- kreuzer, der Alchemisten undTheosophen sowie die altindisch-vedischen Religionen und den tibetischen Buddhismus. Interne Streitigkeiten führen schließ- lich zur Spaltung der Organisation, und Annie Be- sant wird Leiterin der Theosophischen Gesellschaft in Indien. Bald darauf gründet in Deutschland Rudolf Steiner, zuvor Mitglied der TG, die Allgemeine An- throposophische Gesellschaft, die sich den Heraus- forderungen der Gegenwart und Zukunft stellt in dem Bewusstsein, dass diese Aufgaben nur durch eine spirituelle Vertiefung des Lebens gelöst werden können. In seinen zahlreichen Vorträgen über An- throposophie als Wissen von der geistigen Welt re- feriert Steiner 1913 in Berlin auch über Jacob Böhme. Der Vortrag beginnt mit den Worten: »In dem Zeit- punkte der modernen Geistesentwickelung, in dem wir die Morgenröte der neuen Weltanschauung her- einbrechen sehen, in jenem Zeitpunkte, da wir die großen Taten des Kepler, des Galilei zu verzeichnen haben, […] begegnet uns der einsame Denker […] Jakob Böhme, der gerungen hat mit den höchsten Problemen des Daseins in einer Weise, welche unser Denken und Empfinden bis zum heutigen Tage in

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