Katalog
169 D i e Har moni e d e r G eg e n s ät z e tiefster Weise beschäftigen kann, und wohl auch noch lange das Denken und Empfinden der Men- schen beschäftigen wird.« 10 Für Steiner ist Böhme ein imaginativ Erkennender, dem die göttliche Wesen heit in der Natur und im Menschen bewusst war. In Leipzig, Dresden, Chemnitz und anderen deutschen Städten entstehen seit 1907 zudemGesell- schaften, welche die Mazdaznanlehre von Otoman Zar-Adusht Ha’nish verbreiten, in der Elemente aus altpersischen und ägyptischen Religionsmythen, jüdischer und christlicher Mystik und Anklänge aus dem Zen-Buddhismus zu einer umfassenden Körper-, Atem-, Ernährungs- und Hygienelehre verschmelzen. Die Mazdaznanlehre zielt auf eine vollkommene, harmonische und umfassende Entwicklung eines jeden Individuums und seiner Regeneration (oder Wiedergeburt). Die Lehre will das Individuum zur wirklichen Freiheit führen – physisch, geistig und spirituell. So vermischen sich »exotische« Systeme fremder Religionen mit der europäischen Theoso- phie insbesondere in jenen Bereichen, in denen es Entsprechungen gibt. In der Mazdaznanlehre ist es beispielsweise die Idee, dass zwei gegensätzliche Ur- kräfte in allen Dingen vorhanden sind, die ständig miteinander ringen. Auch die Ansicht, dass der Kos- mos in jedemMenschen steckt und jeder einen Kos- mos darstellt (Mikrokosmos – Makrokosmos), ist in diesen Lehren anzutreffen sowie bei Steiner die Vor- stellung, dass der Mensch aus Geist, Seele und Kör- per besteht. 11 All diese Aspekte finden sich auch in Böhmes Denken. Diesen Strömungen ist gemeinsam, dass sie die Überwindung des Materiellen durch das Geistige an- streben und Parallelen zur Bewegung des Sturm und Drang in der Romantik aufweisen. 12 Sowohl »Natur« als auch »Geist« waren wichtige Begriffe in der Ab- grenzung zum Rationalismus und Materialismus der Zeit. Bereits um 1800 wollte man mittels der Kunst den Menschen »zurück zur Natur« (Rousseau) füh- ren und so in einen – so meinte man – Urzustand der Harmonie mit dem Kosmos zurückversetzen. Die Einheit von Leib, Geist und Seele sowie das Streben nach dem Naturzustand werden zu einer wichtigen Losung der lebensreformatorischen Bewegung um 1900. In der Forschung ist der Einfluss von Esoterik, Mystik und Spiritualismus auf die abstrakte Malerei vielfach analysiert worden. 13 Dies dient im Folgenden als Grundlage zur Untersuchung der Reflexion von Jacob Böhmes Ideen im künstlerischen Schaffen von Johannes Itten, Wassily Kandinsky und Hans Arp. I T T EN UND DAS WE IMARER BAUHAUS Als Walter Gropius im Jahr 1919 zum Direktor der Großherzoglich-Sächsischen Hochschule für Bilden- de Künste berufen wird, beginnt er umgehend mit der Umstrukturierung der Schule und benennt sie um in »Staatliches Bauhaus in Weimar«. Er entwirft einen neuen Lehrplan und sucht nach Lehrpersön- lichkeiten, die seiner Vision einer Gemeinschaft mit gleichem Ziel – der Erschaffung eines »Baus der Zu- kunft« – entsprechen. Sein Ziel ist eine neue Bau- kunst, deren Vorbild in der Gotik wurzelt. Bei die- sem Vorbild dienen zum einen die gotische Kathe drale als Manifestation des Gesamtkunstwerks und die Bauhütte als Organisationsmodell, zum anderen bildet die Formensprache der Gotik einen Gegenent- wurf zu der Klassik und dem Klassizismus und ist ein Bezugspunkt für den Expressionismus. 14 Die Gotik galt bereits in theoretischen Auseinanderset- zungen um 1800 als »aus der Natur entlehnt […]«, deren Stil man mit »einer kraftvollen und sinnrei- chen Sprache« vergleichen könne. 15 Zudem stand die gotische Architektur des Mittelalters mit ihrer Äs- thetik der Leichtigkeit, dem Himmelanstrebenden
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