Katalog
170 B öhmes Wirkung und der Naturmimesis dem statischen, rationalen System der griechischen und römischen Klassik ge- genüber. Sowohl die Idee des Gesamtkunstwerks als auch die Hinwendung zur Formensprache der Gotik weist Parallelen zu theosophischen Versuchen auf, eine allumfassendeTheorie der Schöpfung zu finden. So verwundert es nicht, dass diese Kunst- und Geisteshaltung fast alle Bauhaus-Meister teilen, die der Schriftsteller und Galerist Herwarth Walden in seiner 1912 eröffneten Berliner Sturm-Galerie ver- eint. 16 Herwarth Walden (gebürtig Georg Lewin) gründet bereits 1903 einen »Verein für Kunst«, dem seine erste Ehefrau Else Lasker-Schüler, Heinrich und Thomas Mann, Frank Wedekin sowie Rainer Maria Rilke und weitere Schriftsteller angehören. 1910 beginnt Walden die Herausgabe einer Wochen- zeitschrift für Kunst und Kultur mit dem program- matischen Titel »Der Sturm«. Seine Sturm-Ausstel- lungen, Veranstaltungen und die Zeitschrift brechen mit den überkommenen Konventionen des Kultur- betriebs sowie patriarchalen und konservativen Strukturen des wilhelminischen Deutschlands. Ab 1916 arbeitet Lothar Schreyer als Redakteur dieser Zeitschrift, die Kunst verschiedener Stilrichtungen der Avantgarde propagiert. Gemäß Walden ist Kunstanschauung zugleich Weltanschauung, sodass zwischen anthroposophischer oder mazdaistischer Philosophie und expressionistischer Kunst kein Un- terschied mehr zu machen sei. 17 Der Begriff »Sturm« wird zu einem Synonym für die expressionistische Kunst. 18 Sturm-Künstler, die an das Staatliche Bau- haus Weimar berufen werden, sind Lyonel Feininger, Paul Klee, Johannes Itten, Georg Muche, Oskar Schlemmer, Lothar Schreyer, Wassily Kandinsky und Laszlo Moholy-Nagy. Schon bevor Johannes Itten am 2. Oktober 1919 in Weimar eintrifft, um seinem Ruf an das Staatliche Bauhaus zu folgen, zeugen seine Tagebücher aus Stuttgart und Wien von einem Interesse an theoso- phischen, philosophischen und esoterischen Lehren. Das Stuttgarter Tagebuch II enthält zahlreiche Über- legungen zur Farbenlehre, angeregt durch seinen Lehrer Adolf Hölzel. 19 Dessen Unterricht zur Farbe beruht auf der Lehre von den sieben Farbkontrasten, die Itten später in leicht modifizierter Form über- nimmt. 20 Eine weitere Grundlage für den Unterricht ist Hölzels System von Farbkreisen. Der zwölfteilige Farbkreis dient dazu, harmonische Farbzusammen- stellungen, insbesondere »Dreiklänge« oder nach Bezolds Terminologie »Triaden« zu finden. 21 Ange- regt durch Hölzel studiert Itten verschiedene Farb theorien auf der Suche nach einer übergeordneten Systematik des gesamten Farbkosmos, die Bezüge zur Musiktheorie aufweist. In seinem Tagebuch fin- den sich auch Notizen zu Goethes Farbenlehre. 22 Als Höhepunkt dieser Suche nach gestalterischen Geset- zen entwirft Itten 1921 den Farbstern, den er als »Far- benkugel in 7 Lichtstufen und 12 Tönen« dem Heft »Utopia« mit Analysen Alter Meister beilegt. 23 (Abb. 1) Vermutlich kurz nach seiner Ankunft in Wien 1916 lernt Itten die Ehefrau von Walter Gropi- us, Alma Mahler, kennen. Beide hegen gemeinsame esoterische, insbesondere theosophische Interessen. Alma Mahler steht zu jener Zeit in brieflichem Kon- takt mit Annie Besant, mit deren Buch »Uralte Weis- heit« sich auch Itten beschäftigt. 24 Obgleich Itten die Schriften Rudolf Steiners liest, steht er dessen An throposophie imGegensatz zu anderen avantgardis- tischen Künstlern wie Kandinsky ablehnend gegen- über. Der Kunsthistoriker Christoph Wagner sieht den Grund dafür in Ittens Interesse an der Mazdaz- nanlehre und deren esoterischen Denkfiguren. 25 Im Frühjahr 1919 folgt Itten einer Einladung Alma Mahlers, einWochenende auf dem Semmering zu verbringen. Hier treffen sich Gropius und Itten ein erstes Mal, und Mahler empfiehlt Itten für das
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1