Katalog
45 Zu den Horizonten des Veronese Rainer Groh Veronese beherrschte als Künstler der Spätrenais- sance die konstruktiven Regeln der Perspektive meis- terhaft. Drei der Gemälde des Dresdner Cuccina-Zyklus – »Die Anbetung der Könige«, »Die Hochzeit zu Kana« und »Die Madonna der Familie Cuccina« (Kat.-Nr. 1, 2 und 4) – zeigen bereits einen geradezu spielerischen Umgang mit den Regeln. Einhundert Jahre zuvor demonstrierte Francesco del Cossa sein malerisches Können, indem er »Die Verkündigung an Maria« (Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.- Nr. 43) in einer überwältigenden Architektur stattfin- den ließ. Ähnlich verfuhr Raffael bei der »Schule von Athen« (Vatikan, Apostolischer Palast). Doch im Ver- lauf der Hochrenaissance lassen die Maler die Archi- tektur in den Hintergrund treten, und zwar immer dann, wenn dynamische und komplexe Szenen dar- gestellt werden. Ja, es kommt regelrecht zur Dekon- struktion der eben noch perfekten Räume. Die ge- baute urbane Welt bildet nicht mehr die geschlos- sene und vollständige Bühne für den Auftritt der ›Darsteller‹ – nein, sie wird fragmentiert und mischt sich in Teilen unter das agierende Personal. Dies ist ein Konzept, das im Barockzeitalter zur vollen Entfal- tung kommt. Die architektonische Welt wird exem plarisch zitiert. Oft sind die im Bild vorkommenden Gegenstände Fragmente von Ruinen oder von im Bau befindlichen Gebäuden. Erste Naturformen berei- chern das Geschehen. Ausnahmen von dieser Praxis bilden nach wie vor Veduten oder dokumentarische Darstellungen von Innenräumen. Bevor es zu einer Analyse der drei genannten Werke kommt, ist es notwendig, dass in aller Kürze einige Erläuterungen zur Praxis der darstellenden Geometrie beziehungsweise der Linearperspektive vorangestellt werden: Prinzipiell wird mit den Mitteln der Geometrie ein monoperspektivisches Raumbild der Architektur erzeugt. Voraussetzung der Konstruk- tion ist ein definierter Abstand des Augpunktes von der Bildebene beziehungsweise der Leinwand. Von diesem Augpunkt aus ergibt sich für den späteren Betrachter ein stimmiges, das heißt verzerrungs- freies Bild der gebauten Welt. Als nächstes ist der orthogonale Durchstoßpunkt der optischen Achse durch die Leinwand beziehungsweise die Bildebene festzulegen. Dieser Punkt wird Hauptpunkt (HP) ge- nannt. Dieser Hauptpunkt liegt mitunter exakt auf der Mittelachse des Bildes, wie auch bei der »Verkündi- gung« Francesco del Cossas. Oft jedoch wird er frei platziert. Ein im unteren Bereich des Bildes befindli- cher Hauptpunkt ermöglicht eine Untersicht zum Ge- schehen auf der »Bühne«. Eine Schau auf die Bühne wird durch einen im oberen Bildbereich befindlichen Hauptpunkt ermöglicht. Die natürliche Horizontlinie verläuft waagerecht durch den Hauptpunkt. In der Regel baut der Künstler in einem weiteren Schritt ein Bodengitter auf. Doch zuvor muss die Höhe (h) des Horizontes über dem Boden festgelegt werden. Die- ser Wert gilt »in« der Bildebene. In Abbildung 1 ist zu sehen, dass dieses Maß der Schulterhöhe des an die Säule gelehnten Kindes entspricht. Der Horizont (H1) wurde also konstruktiv festgelegt. Um die Tiefen staffelung der Objekte korrekt darstellen zu können, wird ein Bodengitter benötigt. Dieses wird mit der sogenannten Pavimento-Methode konstruiert. 1 Das Grund- bzw. Startelement des Gitters ist ein quadra- tisches Gebilde, zumeist eine Fliese, ein quadratisches Ornament in einem Teppich oder wie in der »Ma- donna der Familie Cuccina« (Abb. 1) eine Plinthe unter einer Säule. Die in zahlreichen Gemälden der Alten Meister zu findenden Fliesenböden sind schlicht Rudimente des Konstruktionsprozesses. In der »Hoch- zeit zu Kana« (Abb. 2) ist im rechten unteren Bereich vor dem Kind mit der Katze ein Fliesenelement zu sehen. In der »Anbetung der Könige« (Abb. 3) fehlt ein solches Element, da an keinem Objekt eine Tie- fengliederung notwendig war. Das Bodengitter wird in Folgeschritten in die Höhe entwickelt. Dieses Vor- gehen kann besonders gut in Abbildung 2 im Bereich der Säulenreihen erkannt werden. Wird das geo metrische Konstruktionsprinzip streng eingehalten, Abb. 1 Veronese, »Die Madonna der Familie Cuccina«, mit grafischen Ergänzungen Abb. 2 Veronese, »Die Hochzeit zu Kana«, mit grafischen Ergänzungen Abb. 3 Veronese, »Die Anbetung der Könige«, mit grafischen Ergänzungen
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