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46 entsteht eine Monoperspektive, die auf einem Aug- punkt, einemHauptpunkt und einem Horizont beruht. Del Cossas Gemälde ist in diesem Sinne sehr konse- quent konstruiert. Ebenso Raffaels symbolisches Schulgebäude. Wie gleich zu zeigen ist, geht Vero- nese flexibel mit den konstruktiven Regeln um. Seine Werke besitzen mehrere Horizonte. Doch zurück zur Verkündigungsdarstellung Fran­ cesco del Cossas: Die eben getroffene Feststellung, dass die Objekte getreu den Regeln der darstellen- den Geometrie abgebildet werden, bezieht sich nur auf kubische gebaute Objekte: Fliesen, Pfeiler mit quadratischemQuerschnitt, Balken, Mauern, Fenster oder ganze Gebäude mit rechteckigem Grundriss. Diese Objekte werden Systemobjekte genannt. 2 Der durch sie gebildete Raum wird als Systemraum be- zeichnet. Dies geschieht in Anlehnung an Panofsky. 3 Man versteht leicht, dass die perspektivische Abbil- dung dieser durch Ebenen und geradlinige Konturen begrenzten Objekte effektiv durch die Linearperspek- tive zu bewältigen ist. Bei genauer Analyse der Werke der Alten Meister wird deutlich, dass es eine weitere Objektgruppe gibt, die sich den Vorgaben der Linear- perspektive teilweise entzieht: Menschliche Figuren, Statuen, Vasen, Rondelle, Kuppeln oder zylindrische Säulen. Folgende Merkmale kennzeichnen diese Ob- jektgruppe: Sie sind 1. anthropomorph, aufrechtstehend und potentiell mobil; 2. konvex, plastisch und vital; 3. singulär und freistehend; 4. bedeutsam, d. h. sie binden Aufmerksamkeit. 4 Diese Objekte sollen als Dialogobjekte bezeichnet werden. Menschen sind die prominentesten Vertre- ter dieser Gruppe. Im geometrischen Sinne weist jedes Dialogobjekt eine Sonderperspektive auf. Diese beruht darauf, dass der Maler sich diesen Ob- jekten zuwendet, während er den Systemraum unter der Maßgabe einer starren Blickrichtung erfasst. Also besitzen die Dialogobjekte einen eigenen (Dia- log-)Hauptpunkt (siehe Abbildung 5: HPGast und HPDiener) und entsprechend auch einen (Dialog-) Augpunkt. Hinsichtlich ihrer tiefenabhängigen Größe werden sie jedoch an die Vorgaben des System- raums angepasst. Der Haupteffekt, der sich nach der Hinwendung des Malers zu Säulen, Kelchen oder Menschen einstellt, besteht darin, dass deren Bild entzerrt ist. Normalerweise unterliegen alle Objekte einer perspektivischen Verzerrung. Diese ist umso größer, je weiter sie seitlich vom Hauptpunkt ent- fernt sind. Man betrachte Sandro Botticellis Werk »Aus dem Leben des heiligen Zenobius« (Abb. 4): Die Treppenstufen rechts unten im Bild sind – linearper­ spektivisch richtig – stark verzerrt. Die Figuren, be- sonders im rechten Bildfeld, müssten, würden sie wie Systemobjekte behandelt werden, ebenfalls deutlich verzerrt beziehungsweise nach rechts ge- dehnt erscheinen. Sie folgen jedoch unserer Erwar- tung. Die Figuren besitzen »menschliche« und erwar- tungskonforme Silhouetten. In dieser Form sind sie jedoch nur von ihrem eigenen Augpunkt aus wahr- nehmbar; der Betrachter muss sich – um es ganz einfach zu sagen – jeweils vor die Porträtierten stel- len. Er muss sich vor dem Gemälde bewegen. Abbil- dung 5 gibt die Zusammenhänge schematisch wie- der. Dies ist auch aus dem sukzessiven Malprozess erklärbar. Botticelli hat wie jeder andere Maler, der eine Gruppenszene darstellen will, seine Modelle nacheinander im Atelier studiert, Skizzen angefertigt und ihre Bilder quasi in das Gesamtgemälde »mon- tiert«. Im Atelier hat er seine Modelle frontal, also unverzerrt gesehen und sie entsprechend gemalt. Ein Fotograf hätte die komplette Gruppe per Knopf- druck erfasst, dabei eine monoperspektivische Ab- Abb. 5 Schema der Zuordnung des Betrachters zu den Dialogobjekten Abb. 4 Sandro Botticelli, »Aus dem Leben des heiligen Zenobius«, um 1500, Tempera auf Pappelholz, 66 × 182 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 9, mit grafischen Ergänzungen

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