Katalog
47 bildung erzielt, und die peripheren Figuren würden – besonders bei Weitwinkelaufnahmen – perspekti- vische Verzerrungen zeigen. Die Kombination der Einzelperspektiven der Dialog objekte mit den unter einer einheitlichen Bedingung erfassten Systemobjekten erzeugt einen hybriden Systemraum. 5 Nach diesem ›Konzept‹ verfährt auch Veronese, wie letztlich nahezu alle Maler. Ein mehr oder weniger angedeuteter Systemraum bildet bei ihm die Bühne für den Auftritt seiner ›Darsteller‹, die eine Geschichte erzählen. Die Geschichte wird in allen drei Fällen – auch in der hier nicht besproche- nen »Kreuztragung« (Kat.-Nr. 3) – lateral erzählt. Es gibt jeweils ein Zentrum, dem sich die Haupt- und auch die Nebenfiguren von links beziehungsweise rechts nähern. Die Szenen sind im Verhältnis zur Breite flach aufgebaut. In der Tiefe des Raumes gibt es zwar noch weit entfernte Gruppen, doch dienen diese eher als Maßstäbe zur Verdeutlichung und Be- lebung der räumlichen Tiefe. Die Gruppenbildnisse sind zudem Meisterwerke der kompositorischen Kunst. Verdichtung wechselt sich mit Öffnung ab, Aufrechtheit stemmt sich gegen Geneigtheit, Ruhe steht gegen Bewegung und dominante Porträts von Erwachsenen werden durch zarte Kinder- und Tier- bildnisse kontrastiert. Bevor nun etwas zur perspektivischen Wirkung der Dargestellten gesagt werden kann, muss eine Ergän- zung zur Feststellung, dass alle Bildnisse letztlich auf Einzelperspektiven beruhen, erfolgen. Es wurde oben bemerkt, dass jedes Bildnis einen eigenen Dialog- hauptpunkt besitzt. Auf Höhe dieses Hauptpunktes befindet sich das Auge des Betrachters beziehungs- weise Malers, und dieses befindet sich – im Sinne der konstruktiven Regeln – in Höhe der Horizontlinie. Letztlich befinden sich alle Dialoghauptpunkte wie auch der Hauptpunkt des Systemraumes auf der Ho- rizontlinie; sie sind Teile dieser Linie. Somit befindet sich der Dialoghauptpunkt des knienden Mädchens im linken Bereich der Hochzeitsszene über ihrem Na- cken, und der Dialoghauptpunkt der Maria in der An- betungsszene liegt im Bereich ihrer Füße (vgl. Abb. 2 und 3). Entsprechend ergibt sich eine Aufsicht auf das Mädchen und eine Untersicht auf Maria. Nun hat Veronese diese Prinzipien auch variiert. Zudem ist die Distanz der Augpunkte zur Bildebene (Leinwand) re- lativ groß, sodass sich Auf- und Untersichten nicht allzu prägnant unterscheiden. Aber dennoch spürt man, dass sich auf Höhe der mit H1 bezeichneten Ho- rizontlinien ein ›angemessener Zugang‹ eröffnet. In den Abbildungen der Gemälde wurden die Ho rizontlinien, die mit der Konstruktion des System raumes verknüpft sind, mit H1 bezeichnet. In allen Gemälden ist jedoch noch mindestens ein weiterer Horizont H2 zu finden: Im Familienbildnis der Familie Cuccina sind vor ihrem im Hintergrund befindlichen venezianischen Stadtpalast menschliche Figuren zu erkennen, die sich nahe der Meereshöhe in Gondeln befinden (Abb. 1). Der Meereshorizont H2 kann sich nur unwesentlich über deren Köpfen befinden. Eine andere Deutung ließe die Familie auf einem fiktiven Berg Platz nehmen, dann entfiele H2. Im Gemälde, das die Hochzeit zu Kana darstellt, verläuft ein weite- rer Horizont unter dem Kinn Christi, denn mit H1 kann weder die Aufsicht auf den Tisch noch die leichte Un- tersicht unter das Weinglas des im Vordergrund ste- henden Mundschenks erklärt werden (Abb. 2). Die Anbetungsszene besitzt einen zusätzlichen Horizont nahe der unteren Bildbegrenzung, da die Kanten des Sockels unter Maria zu einem Punkt deutlich unter H1 fluchten (Abb. 3). Man könnte es sich einfach machen und die eben geschilderten Merkmale als malerische Ungenauig- keiten auffassen. Doch dürfte ein Künstler wie Vero- nese nichts dem Zufall überlassen haben, sondern die ästhetische Wirkung dieser Abweichungen mit intuitivem Gespür in seinen Kompositionen mit ein- kalkuliert haben. Welche Wirkungen werden im Einzelnen erzielt? Der Einsatz mehrerer Horizonte führt dazu, dass dem Betrachter verschiedene Niveaus ›vorgeschlagen‹ werden. Da sich diese Niveaus auf Szenenbereiche beziehen, die hintereinanderliegen, führt dies zu einer Welle im Bildraum. Letztlich hebt diese Welle die Familie Cuccina samt Heiliger Familie empor. Die Hochzeitsgesellschaft neigt sich zum Betrachter, und Maria wird mit dem Jesusknaben zusätzlich über- höht. Es entstehen perspektivische Mehrdeutigkei- ten, die sehr subtil wirken. Die spannungsvolle Raum-Dynamik wird gestei- gert durch die Überlagerung mit dem Perspektivkon- trast zwischen System- und Dialogobjekten. Nicht nur die wiedergegebenen biblischen Erzählungen führen also zu ›Spannung‹, auch die in der geometrischen Struktur begründeten Kontraste laden den Bildraum in diesem Sinne auf. Anmerkungen 1 Scriba/Schreiber 2000, S. 276 ff. 2 Groh 2014. 3 Panofsky 1985. 4 Groh 2014, S. 65ff. 5 Ebd., S. 81.
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