Katalog
156 Kat.-Nr. 9 Martin Schongauer Colmar um 1450–1491 Colmar Die große Kreuztragung Christi um 1475 Unten mittig monogrammiert: »M+S« Kupferstich, 286 × 430 mm (Platte) Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. A 494 Literatur: Hollstein/Schmitt 1999, S. 33; Ausst.-Kat. Dresden 2004, S. 34 (vor 1485). 1962 wurde erstmals erkannt, dass Veronese Schongauers Kupferstich der »Großen Kreuztragung Christi« als Aus- gangspunkt für dasselbe Motiv im Cuccina-Zyklus (Kat.- Nr. 3) nahm. 1 Allerdings wurde eingewendet, dass schon zuvor andere Künstler diese Grafik rezipiert hatten, wie beispielsweise Raffael im »Spasimo di Sicilia« (Madrid, Pra do). 2 Doch lässt sich anhand von Veroneses Londoner Skizze (Kat.-Nr. 6) belegen, dass er tatsächlich Schongau- ers Kupferstich als Vorlage heranzog. Dass er daneben auch Raffaels Komposition kannte (Abb. S. 19) ist offenkundig. 3 Nordalpine Kupferstiche wurden in Italien schon im 15. Jahrhundert studiert. Dabei spielte Venedig eine zen trale Vermittlungsrolle, denn neben dem wirtschaftlichen Austausch zwischen den deutschen Handelszentren und der Serenissima entwickelte sich auch ein künstlerischer und intellektueller Transfer. 4 Schon der junge Veronese soll Grafiken von Albrecht Dürer kopiert haben. 5 Gesichert ist, dass er für die Landschaftsfresken in der Villa Barbaro in Maser (1561/62) eine Stichserie von Hieronymus Cock (1551) nutzte. 6 Dieser Kupferstich ist Schongauers größte und einfluss- reichste Grafik. 7 Veronese übernahm daraus die grundsätz- lich bildparallele Anordnung der Szene. Aus dem Querfor- mat konnte Veronese sich auch die Verwendung des Kreuz- stammes als verbindendes Element abschauen. Gleichfalls sind die zerrenden Schergen wie nachrückenden Würden- träger in Schongauers Blatt vorgebildet, ebenso die Beto- nung der massiven Soldatengestalt direkt vor Christus. Zudem führt Schongauer den Zug der Schergen links in die Tiefe, einschließlich des von hinten gezeigten reitenden Soldaten. Die Idee, dort die beiden Schächer in Rückenan- sicht zu zeigen, übernahm Veronese zumindest für einen von ihnen. Andreas Henning Anmerkungen 1 Marini 1962, S. 67; Marini 1968, S. 112. 2 Cocke 1984, S. 146. 3 Hierzu siehe oben S. 18f. und Kat.-Nr. 6. 4 Vgl. Koreny 1999; Roeck 1999; van der Sman 1999. 5 Ridolfi 1648, Bd. 1, S. 345. 6 Pignatti/ Pedrocco 1995, Bd. 1, S. 174; van der Sman 1999, S. 152; Ausst.-Kat. Venedig 1999, S. 586f., Nr. 178. Zur Villa siehe Pignatti/Pedrocco 1995, Bd. 1, S. 174ff., Nr. 123. 7 Ausst.-Kat. München 1991, S. 53ff., Nr. 9; Krohm/Nicolaisen 1991, S. 91ff., Nr. 9; Hollstein/Schmitt 1999, S. 32f., Nr. 9; Heinrichs 2007, S. 69 (gegen 1475). Zu Jan van Eycks Bildfindun- gen als Schongauers Inspirationsquelle siehe Hirthe 1991, S. 22ff.
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