Katalog
113 Eva Stricker-Zeisel ist eine Ausnahmepersönlichkeit ihrer Zeit und zweifellos wird man ihr eher gerecht, wenn man sie als Designerin, nicht als Keramikerin bezeichnet. Nach einem abgebrochenen Malereistudium an der Kunstaka- demie und einer Töpferlehre in Budapest konnte sich die gebürtige Ungarin von Anfang an als professionelle Ent- werferin für industriell gefertigte Produktreihen behaupten. Wenige Jahre ihrer frühen Schaffenszeit verbrachte sie in Deutschland, wo sie ab 1927 zunächst für die Firma Han- sa Kunstkeramik in Hamburg und anschließend für die Schramberger Majolika-Fabrik im Schwarzwald arbeitete, bevor es sie 1930 in die pulsierende Metropole Berlin zog. In ihrer dortigen Atelierwohnung in der Tauentzienstraße entstanden Entwürfe für die Keramikmanufakturen in Lü- beck und im bayerischen Hirschau, die von der Firma Christian Carstens Kommerz betrieben wurden. Schon zwei Jahre später entschloss sich die Künstlerin jedoch, Berlin zu verlassen und in der damaligen Sowjetunion ihr Glück zu versuchen. Nachdem sie für große Betriebe wie die Staatliche Porzellanmanufaktur Lomonosov in St. Pe- tersburg und die Porzellanmanufaktur Dulevo bei Moskau tätig gewesen war, wurde ihr die künstlerische Gesamt- leitung der sowjetischen Porzellan- und Glasindustrie übertragen. Überraschenden Abbruch fand ihre bis dahin steile Karriere, als sie im Mai 1936 mit dem Vorwurf, ein Komplott gegen Stalin geschmiedet zu haben, festge- nommen wurde. Erst nach etwa 15 Monaten wurde sie unverhofft und kommentarlos aus der Haft entlassen und nach Österreich abgeschoben. Wie für andere Künstle- rinnen aus jüdischen Familien wäre es für sie jedoch le- bensbedrohlich gewesen, in Österreich zu bleiben oder nach Deutschland zurückzukehren, und so emigrierte auch sie über die Schweiz und England in die USA. Dort avancierte sie zu einer der erfolgreichsten, international anerkannten Industriedesignerinnen und nahm ab 1939 die Lehrtätigkeit in der Keramikklasse des renommierten Pratt Institute in New York auf. 1945/46, knapp zehn Jahre nach Russel Wrights (1904– 1976) erfolgreichem Design des Geschirrs namens »American Modern«, entwarf Eva Stricker-Zeisel ihr Spei- seservice »Town and Country«. Wie bei Wright handelt es sich nicht um ein geschlossenes Ensemble von Service- teilen, die in Form, Farbe und Dekor eng aufeinander ab- gestimmt sind. Vielmehr werden einzelne Gefäßformen, Platten und Teller in unterschiedlichen Farben angeboten und können von den Käufern nach eigenem Belieben zusammengestellt und nachgekauft werden. Noch deut- licher tritt in Stricker-Zeisels Arbeit die Eigenständigkeit der jeweiligen Formen hervor. Nicht ohne Grund werden an- gesichts der skulpturalen Qualität einzelner Stücke in der Literatur immer wieder Vergleiche mit Künstlern wie Hans Arp angestellt (Esplund 2009, S. 26, 31). Eva Stricker-Zei- sel selbst beschrieb die Formbeziehungen zwischen den Serviceteilen mit dem Bild der Familie. Die Stücke sollten sich nicht wie Geschwister gleichen, sondern eher wie Cousins, Onkels und Tanten deutliche Eigenheiten erken- nen lassen und dennoch familiäre Zusammengehörigkeit offenbaren (Esplund 2009, S. 31–34). Inspiration für die mit Humor und Fantasie umgesetzten, abstrahierten For- men schöpfte die Designerin aus der Natur und aus dem Leben. Es war ihr ein wichtiges Anliegen, Gebrauchsge- genstände zu schaffen, die ihre Nutzer emotional berüh- ren und zu Assoziationen anregen. So erinnert etwa die Kanne im Berliner Kunstgewerbemuseum an den geöff- neten Schnabel eines Vogels oder die zum Fang bereite Blüte einer fleischfressenden Pflanze. Den sich aneinan- derschmiegenden Salz- und Pfefferstreuern stellte die Künstlerin im Katalog zur großen Retrospektive von 1984 unmissverständlich eine Fotografie von sich und ihrer Tochter gegenüber (Kat. Eva Zeisel 1984, S. 93). Die Be- seeltheit der Objekte in Verbindung mit der geschwunge- nen, organischen Linie hatte Priorität vor der reinen Funk- tionalität, wobei nicht zu leugnen ist, dass der über die Kannenöffnung gezogene Griff erstaunlich praktikabel ist und die Streuer ausgezeichnet in der Hand liegen. LRD Literatur Kat. Avantgarde für den Alltag. Jüdische Keramikerinnen in Deutschland 1919–1933. Marguerite Friedlaender-Wildenhein, Margarete Heymann-Marks, Eva Stricker-Zeisel, Bröhan-Museum Berlin, hrsg. von Ingeborg Becker/Claudia Kanowski, Berlin 2013. | Lance Esplund, Eva Zeisel. The Shape of Life, in: Kat. Eva Zeisel. The Shape of Life, hrsg. von Gerald Zeigerman, Erie Art Museum, Pennsylvania, Tyler Museum of Art, Texas, 2009, Erie 2009, S. 13–78. | Barbara Mundt/Susanne Netzer/Ines Hettler, Interieur + Design 1945–1960 in Deutschland, Berlin 1993, Kat.-Nr. 363. | Kat. Eva Zeisel. Designer for Industry, hrsg. von Martin Eidelberg/Eva Zeisel, Le Chateau Dufresne, Musée des Arts Décoratifs de Montréal, Brooklyn Museum New York, Art Institute Chicago, 1984, Chicago u.a. 1984.
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