Katalog
145 Ungewöhnliche und unkonventionelle Lösungen machten in der Mitte des 20. Jahrhunderts das italienische Möbel- design auf dem internationalen Markt unverwechselbar. Ein bezeichnendes Beispiel stellte Osvaldo Borsani im Jahr 1954 mit seinem Liegesessel P 40 vor. Borsani entstammte einer erfolgreichen Möbelwerkstatt, die sein Vater Gaetano Borsani (1886–1955) für Innenein- richtungen in handwerklicher Manier gegründet hatte. In den 1920er-Jahren machte sich das Unternehmen als Atelier Varedo mit Möbeln in einem eigenwilligen Art-déco- Stil einen Namen. Entscheidend wurde die Firma ab den 1930er-Jahren durch Osvaldo Borsani geprägt, der eine neue nüchterne Linie im Sinne des Rationalismus einführ- te. Seine Arbeiten sind vergleichbar mit jenen der Neuen Sachlichkeit in Deutschland, wie beispielsweise von Bru- no Paul. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog Osvaldo Borsani eine einschneidende Wende in der väterlichen Firma und kehrte sich vom traditionellen Holzmöbel ab. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Fulgenzio Borsani begann er 1953, auf industrielle Fertigung umzustellen und ein neues Design zu kreieren. Allein der Name »Tec- no« war schon Programm der Firma, dessen Möbel sich durch ausgeklügelte technische Finessen auszeichnen sollten. Metallrahmen und Schaumstoffpolster bildeten die Basis für die neuen Konstruktionen. Zunächst entwickelte Borsani selbst die Prototypen für die neu geschaffene Firma, ging aber später dazu über, auch andere Architek- ten und Designer, wie Carlo De Carli, Roberto Mango oder Eugenio Gerli entwerfen zu lassen. Das erste Produkt war das Sofa D 70 aus dem Jahr 1953, welches durch seine Schlichtheit auffiel. Es bestach je- doch dank seiner Wandelbarkeit: Es konnte mit aufrechter Lehne als Sofa benutzt werden, mit heruntergeklapptem Rückteil als Bett dienen oder zusammengeklappt wie ein Taschenmesser leicht verstaut werden. Der Clou war al- lerdings, dass Sitz und Sofalehne identisch gestaltet wa- ren, sodass das Sofa vice versa zu klappen war, je nach- dem, zu welcher Seite man im Raum sitzen wollte. Aus dem Modell D 70 entwickelte Borsani den Liegeses- sel P 40, dessen Verwandlungsmöglichkeiten vervielfacht waren. Der Sessel besteht aus drei unabhängig vonein- ander beweglichen Teilen. Sitz und Lehne sind völlig va riabel und bis zur Liegeposition ausklappbar, wobei der patentierte Mechanismus in feinen Abstufungen einrastet. Das Fußteil kann herausgeklappt und noch weiter aus gezogen werden oder unter dem Sitz verschwinden. Die flexiblen Armlehnen aus mit Gummi umkleidetem Stahl- band können, wenn sie stören, einfach heruntergedrückt werden. In den rückwärtigen Beinen sind fast unsichtbar Rollen integriert, um ein Verschieben des Möbels zu er- leichtern. Die sichtbaren Knöpfe und Nieten werden zu Gestaltungselementen und ein deutlich erkennbares Fir- menlogo ziert den konstruktiven Metallzwickel. P 40 wur- de bereits ab 1959 verändert. Ursprünglich war das Kopf- teil wie ein Ohrensessel ausgearbeitet, das nun begradigt wurde, wie es das Stück im Berliner Kunstgewerbe museum vorführt. Der Textilbezug war abziehbar und wurde ursprünglich in Schwarz, Rot, Blau und Grau an- geboten, während Beine und die weiteren Metallteile schwarz oder gelb lackiert waren. Der Ruhesessel wirkt trotz aller Technik grazil und leicht. Mit seinen sanft schwingenden Formen und gegrätschten Beinen entspricht er ganz der Formensprache der 1950er-Jahre. Gerade das perfekte Zusammenspiel von Technik und Design faszinierte Borsani. Das auf der X. Mailänder Triennale 1954 gezeigte Sofa D 70 und der Liegesessel P 40 überzeugten die Jury, welche D 70 mit dem ersten Preis prämierte. ST Literatur Aldo Colonetti, Osvaldo Borsani. Frammenti e ricordi di un percorso progettuale, Mailand 1996. | Giuliana Gramigna/ Fulvio Irace (Hrsg.), Osvaldo Borsani, Rom 1992.
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